Engel der Kindheit
Aufgelöst stürzte Sam sich in die kräftigen Arme seines Vaters. Am Ende seiner Kräfte ging Nils in die Hocke und fing ihn auf.
„Hat sie dir sehr wehgetan?“ Sanft streichelte er das dichte Haar seines Sohnes.
„Es war nicht so schlimm! Ich hatte solche Angst um Mickey! Papi, warum ist Mutter so? Sind alle Mütter so?“ Fragend sahen Sams tiefblaue Augen seinen Vater an.
„Ich weiß nicht, warum sie so ist, aber es sind nicht alle Mütter so! Manche sind auch so sanft wie ein Engel!“ Ein verträumter Schimmer trat in seine Augen, ergriffen senkte er die Lider.
„Gibt es Engel überhaupt?“ Neugierig setzte Sam sich mit Mickey auf den Boden, kuschelte sich an seinen Vater, der die Beine im Schneidersitz verschränkt hatte und ihn an seine Brust zog.
„Ja, Engel gibt es! Ich habe mal einen gekannt! Er hatte wunderschönes, langes strohblondes Haar, das ihm bis über den Rücken reichte, dadurch waren seine kleinen Flügel nicht zu sehen. Wie Korkenzieher kringelten sich die Locken. Wenn ich ihn angesehen habe, habe ich immer gedacht, die Haare wären seidenweich, aber sie waren fest, widerspenstig, wie die Mähne eines Pferdes. Mein Engel hatte ein weiches, ovales Gesicht, ganz zarte Haut und Augen, die so dunkelblau, beinahe violett waren, wie blühende, duftende Veilchen. Genauso riechen Engel auch! Süß und lieblich, alles was sie berühren, berühren sie mit ihrem Zauber, der sie umgibt.“ Sehnsuchtsvoll sah Nils zur Decke, er sah Lena in ihrer ganzen Anmut, sah wieder, wie sie das Küken in der Hand gehalten hatte, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Alles, was er sich verbot zu träumen, stürzte erdbebengleich auf ihn ein.
„Was ist mit deinem Engel geschehen? Musste er zurück zum lieben Gott?“ Mit großen Augen blickte Sam seinen Vater unschuldig und interessiert an.
„Nein, ich habe ihm ganz schrecklich arg wehgetan, ich habe ihm etwas versprochen, was ich nicht gehalten habe! Jetzt ist er bei jemand anderem und macht ihn glücklich!“ Erschüttert warf Nils die Hände vor das Gesicht, Sam sollte seine Tränen nicht sehen.
„Papi, nicht weinen! Du hast doch mich!“ Eng schmiegte Sam sich in die Arme seines Vaters.
Verlegen räusperte sich Maria, die die ganze Zeit stumm in der Mitte des Raumes gestanden hatte. Ihr Arbeitgeber hatte also eine Frau geliebt, die viel besser zu ihm gepasst hätte, als die herrschsüchtige gnädige Frau.
„Herr Keller! Wir könnten essen!“ Noch einmal räusperte sie sich, um auf sich aufmerksam zu machen.
„Ist gut, Maria! Wir kommen!“ Schleppend erhob Nils sich, er kam sich vor wie ein gebrochener Mann.
24. Kapitel
Wie jeden Morgen brachte Lena Nele zu ihrer Mutter. Mit ihren eineinhalb Jahren war sie nicht mehr zu bremsen. Lebhaft und aufgeweckt lachte sie in den lautesten Tönen, freute sich über alles, was sie neu entdecken konnte. Vor ihren kleinen, neugierigen Fingern war nichts mehr sicher. Seit sie laufen konnte, hatte sich ihr Aktionsradius in ungeahnten Breiten erweitert.
Seit zwei Monaten ging Babs in die erste Klasse. Unglaublich leicht lernte sie, nur die dauernde Müdigkeit, die sie seit ein paar Wochen hatte, machte Lena Kopfzerbrechen. Heute Mittag würde sie mit Babs zu Doktor Lehmann, ihrem Kinderarzt gehen.
„Nele, sei artig und folg der Momi!“ Liebevoll nahm Lena ihre kleine Tochter in den Arm, gab ihr einen Kuss auf den spitzen Mund und fuhr ihr durch die glatten schulterlangen, dunkelbraunen Haare.
„Mama, ada!“ Glücklich strahlten Neles engstehende Augen ihre Mutter an. Von dem gleichen Mitternachtsblau, wie die ihrer Schwester waren sie, auch in Neles Iris, die von einem dunklen Rand umkreist war, tanzten wild die weißen Tupfen.
Flink lief Lena zu der Praxis, die sie mit ihrem Vater zusammen führte. Jeder von ihnen hatte ein eigenes Behandlungszimmer. Gemeinsam führten sie die morgendlichen Operationen durch.
Bereits die Hälfte des Vormittags war vergangen, als die Tierarzthelferin in Lenas Behandlungszimmer kam. „Frau Doktor Johle, Telefon! Babs Lehrerin!“
Verstört sah Lena auf die Uhr, unterbrach die Untersuchung an dem kleinen Boxerwelpen, reichte ihn seiner Besitzerin und entschuldigte sich.
„Johle!“
„Frau Johle, Hartmann hier!“ Kurz räusperte sie sich. „Babs ist im Unterricht umgekippt! Sie liegt auf der Liege im Krankenzimmer, ich denke es ist besser, wenn Sie mit ihr zum Arzt oder ins Krankenhaus gehen!“
„Ich komme sofort!“ Eilig
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