Engel der Kindheit
ist ja gut!“ Beruhigend sprach Lena auf sie ein, sie würde sie so gerne aufmuntern, aber ihr fielen keine Worte ein, die nicht gelogen gewesen wären.
„Ich bleibe hier! Vielleicht morgen!“ Dankbar, dass ihre Mutter bei ihr war, gelang Lena ein Verziehen der Mundwinkel.
Bis in die Nacht übergab Babs sich mehrmals in der Stunde. Zum Ende kam nur noch gelbe Galle aus ihr heraus. Fast brach Lena es das Herz, wenn sie ihre Tochter ansah. Warum konnte sie ihr die Schmerzen und das Leid nicht abnehmen? Warum musste es ein unschuldiges Mädchen mit sechs Jahren sein, die gegen den übermächtigen Tod ankämpfen musste?
Endlich schien sie eingeschlafen zu sein. Es war beinahe Mitternacht, Lena war am Ende ihrer Kräfte. Den ganzen Tag hatte sie nichts gegessen und kaum etwas getrunken. Ermattet fiel sie auf das Klappbett, das sie neben dem Bett ihrer Tochter aufgebaut hatte.
Über eine Woche lag Babs bereits im Krankenhaus. Eine Woche, in der sie sich die meiste Zeit übergab, keine Nahrung oder Flüssigkeit in sich behielt und neben der Chemotherapie sorgte nun eine weitere Infusionsflasche für den Ausgleich des Salzhaushaltes in ihrem Körper. Dünn, ausgezehrt und blass lag sie in ihrem Kissen, die Augen lagen in tiefen Höhlen und waren überschattet von tiefem Leid. Die meiste Zeit schlief sie.
Zärtlich fuhr Lena ihr über die Haare. Fürchterlich erschrak sie, als sie plötzlich ein Büschel des wunderschönen, langen Lockenhaars in ihrer Hand hatte. Am Ende ihrer Kräfte war sie selbst angelangt und wusste doch, dass es erst der Anfang war. In der letzten Woche hatte sie kaum etwas gegessen und höchstens von Mitternacht bis um fünf Uhr geschlafen. Jeden Tag kam ihre Mutter und löste sie für zwei Stunden ab. In dieser Zeit ging sie nach Hause zu ihrer kleinen Nele, ließ sich von ihr berichten, was sie zusammen mit ihrer Momi und ihrem Pops erlebt hatte, ging unter die Dusche und wechselte die Kleidung.
Gerade eben war sie zurückgekommen und ihre Mutter war nach Hause gegangen.
„Frau Johle, dürfte ich Sie kurz in das Besprechungszimmer bitten?“ Energiegeladen kam Doktor Herlach in das Krankenzimmer. Bettina und Babs hoben nicht den Kopf, während Lena und Bettinas Mutter, Karin, zusammenfuhren.
Zitternd erhob Lena sich aus dem abgewetzten, grauen Lederstuhl, der neben Babs Bett stand und auf dem sie die meiste Zeit der letzten Tage verbracht hatte. Zwischen Bangen und Hoffen wusste sie, dass die Ergebnisse der Blutwerte vom Labor demnächst eintreffen mussten.
Wie immer führte Doktor Herlach sie in das kleine Besprechungszimmer, indem lediglich ein weißes Regal, ein runder Tisch und vier einzelne, mit dunkelblauem Stoff bezogene Stühle standen. Die milde, untergehende Herbstsonne schien durch das große Fenster, auf dessen Glas die verschmutzten Regentropfen der letzten Sommergewitter den Blick verschleierten.
Innerlich mahnte Lena sich zur Ruhe, als sie sich in den angebotenen Stuhl setzte.
„Die Ergebnisse der Bluttests sind soeben gekommen! In Ihrer Familie ist leider kein geeigneter Spender dabei! Weder Sie selbst, noch Babs kleine Schwester, nicht die Großeltern oder der Onkel... Die Ergebnisse der Spendersuche in Deutschland sind ebenfalls ergebnislos verlaufen! Alle Ihre Freunde und Bekannten, die sich haben testen lassen, kommen nicht in Frage. Die weltweite Suche wird in einer Woche abgeschlossen sein! Wir hoffen auf ein Wunder!“
Bei seinen niederschmetternden Worten presste Lena die Hand vor die Lippen.
„Frau Johle, Babs geht es nicht gut! Es ist normal, dass sich ein Kind übergeben muss, aber bei Babs ist es zu häufig! Ihr Körper wird von allem zu sehr geschwächt! Ich hoffe, dass wir die Chemo nicht abbrechen müssen! Anhand der Blutwerte steigt die Zahl der weißen Blutkörperchen unaufhörlich! Wir können sie nicht bremsen! ... Frau Johle, ich weiß nicht, wie lange Babs es noch aushält! Sie ist mir zu schnell zu schwach geworden, sie hat keine Energie und keine Reserven, die sie für den Kampf um ihr Leben benötigt!“ Bedauernd, aber mit festem Blick sah der Arzt die junge Frau an, die wie ihre Tochter in der letzten Woche zusammengefallen war. Dünn und spitz wirkte ihr Gesicht, ihre Augen lagen in dunklen Höhlen, die Verzweiflung und Todesangst stand in ihren Gesichtszügen.
„Haben Sie alle in Frage kommenden Verwandten gebeten, sich untersuchen zu lassen? Was ist mit dem Vater? Wissen Sie, wie Sie ihn erreichen können? Frau Johle, Sie müssen jeden
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