Engel der Kindheit
schönen, traurigen Augen. Innerlich gestorben war er, zerstört durch seinen Vater. Oft nahm ihn Lena in die Arme, versicherte ihm, dass er in der Lage war, Gefühle zu empfinden, sie irgendwann auszuleben, aber meist saß er wie ausgelöscht auf der Matratze und starrte in die Dunkelheit.
Nach ihren Schularbeiten ging Lena zu ihrem Vater in die Praxis, half ihm bei der Behandlung der kranken und verletzten Tiere, verband selbstständig die kleineren Wunden, verabreichte Spritzen mit einer Selbstverständlichkeit und einer sicheren Hand, dass ihr Vater sie oft stauenden ansah.
Wenn das Wartezimmer sich geleert hatte, lief sie leichtfüßig aus dem Haus, über den Garten in die freie Natur, zu ihren geliebten Feldern und blühenden Wiesen. Ihre Schulfreundinnen saßen lieber vor dem Computer und spielten die neuesten Computerspiele oder entdeckten das Internet. Dazu fehlte Lena einfach das Interesse.
Leise schlich sie sich an den Fuchsbau heran, den sie vor ein paar Tagen entdeckt hatte. Verantwortungsbewusst achtete sie darauf, dass sie aus der Richtung kam, aus der der Wind nicht ihren Geruch zu den sorgenden Fuchseltern tragen würde. Winzig klein tapsten fünf rotfellige Fuchskinder neben ihren Eltern her, balgten sich vergnügt in der Sonne, versuchten eine Biene mit ihren breiten Tatzen zu erwischen und sprangen über die Wurzeln der umher stehenden Bäume.
Auf Zehenspitzen schlich Nils sich von hinten an Lena heran. Natürlich hatte er sich gedacht, dass er sie hier finden konnte, aufgeregt hatte sie ihm von ihrer Entdeckung erzählt und ihn sofort an die Hand genommen, um ihm den bewohnten Fuchsbau zu zeigen.
Ohne ein Wort trat er zu ihr, hauchte ihr einen Kuss auf ihre seidige Wange, legte die Arme um ihre Schultern und zog sie gegen seine Brust. Sanft legte er seine Wange auf ihr raues, an wildes Stroh erinnerndes Haar.
Solange liebte er sie schon und nie hatte er den Mut gefunden ihr seine Liebe zu gestehen. Oft schliefen sie nebeneinander und niemals hatte er sie geküsst oder sie mehr berührt, wie damals, als sie unschuldige Kinder gewesen waren.
Vertraut schmiegte Lena ihren Kopf an seine Wange, still standen sie beieinander und freuten sich an dem Naturschauspiel, das sich ihnen bot.
Stumm verständigten sie sich mit Blicken und verließen ihren Aussichtspunkt. An einer Lichtung setzten sie sich unter eine alte Eiche in die Sonne, schlossen die Augen und genossen die Vertrautheit, die zwischen ihnen herrschte. Beschützend hatte Nils den Arm um Lena gelegt, ihr Kopf lag geborgen an seiner breiten Schulter.
„Warst du in der Werft?“
„Ja!“
„Nils, was ist los?“ Aufmerksam sah Lena ihn an, sie spürte seine innere Anspannung.
„Ich werde heute meinem Vater sagen, dass ich das Abitur bestanden habe! Dann sind die Schmerzen bis zur Abschlussfeier wieder erträglich!“ Überschattet waren Nils engstehende Augen, die weißen Einschlüsse in der himmelblauen Iris wirkten wie von einer dicken schwarzen Wolke umflort.
Ängstlich legte Lena ihre Hand auf seine Wange, streichelte die markante Einkerbung seines männlich harten Kinns. Innig sah sie ihn mit ihren violettblauen Augen an. Wie so oft dachte er, dass er den Geruch von Veilchen wahrnahm, wenn er in ihrer Nähe war und sie ansah.
„Muss das sein? Kannst du ihn nicht in dem Glauben lassen, dass du schon lange in der Werft arbeitest? Schließlich kommst du jeden Tag in Arbeitskleidung nach Hause!“, bettelte sie, sah dabei sein schmutzüberzogenes, staubiges Gesicht. Voll grauer Farbkleckse, Holz- und Metallspäne war seine blaue Latzhose, seine feinfühligen Hände dreckig und zerschunden.
„Ich möchte studieren, Lena, dann kann es ein, dass ich nicht jeden Tag zur Werft kann, gestern habe ich die Bestätigung meines Studienplatzes erhalten. Ich werde meinen Master im Schiffsbau machen, das, was ich mir immer erträumt habe. Wenn ich mir nur eine eigene Wohnung leisten könnte, aber das Geld, das ich in der Werft verdient habe, reicht bei weitem nicht für die Miete und den Unterhalt aus, den ich für eine Wohnung in Hamburg bezahlen müsste.“ Mutlos ließ er die Schultern hängen, traurig sah er sie an. Stets hatte Nils seiner Mutter den Großteil seines Geldes als Haushaltsgeld gegeben, damit sie wenigstens das Essen und die Nebenkosten des Hauses bezahlen konnte.
„Nils, sag es ihm nicht, bitte! Sag es ihm bitte nicht!“ Flehend sah sie ihn an, all ihr Betteln lag in ihren Augen.
„Und die Abschlussfeier? Ich
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