Engel der Kindheit
Rosenbüsche in voller Blüte standen. Amethystfarbene und blutrote Rhododendren blühten im luftigen Schatten, während der scharlachrote Wildklatschmohn am Zaun zu Nils Grundstück seine Wurzeln geschlagen hatte. Kniehoch standen die würzig duftenden Sommerwiesen, die sich bis ans Ende ihres Blickfeldes erstreckten und übergingen in den Mischwald aus hohen Tannen und Laubbäumen.
Unaufgefordert half sie ihrer Mutter die Schüsseln in das Esszimmer zu tragen. Mit auf dem Rücken verschränkten Händen stand ihr Vater vor der großen, geöffneten Terrassentüre. Beinahe körperlich spürte Lena durch ihre sensiblen Antennen seinen Unmut, seine Verärgerung.
„Hallo, Paps!“ Wie immer trat sie zu ihm und gab ihm einen Kuss auf seine raue Wange.
„Engelchen!“ Er war der Einzige, der sie immer noch mit ihrem Kosenamen aus der Kindheit ansprach.
„Sei mit Philipp nicht böse, er will sich nur vor seiner Clique nicht blamieren, ich habe schon mit ihm gesprochen, er erlaubt mir, mitzukommen!“ Einschmeichelnd, bettelnd, half sie ihrem Bruder, weshalb wusste sie nicht zu sagen. Wahrscheinlich einfach um des lieben Friedenswillen, da sie nicht wollte, dass wegen ihr ein Streit vom Zaun gebrochen wurde.
„Du immer! Weshalb hilfst du deinem Bruder, er sollte hier stehen und versuchen, gut Wetter zu machen und nicht du!“ Lächelnd legte er den Arm um ihre Schultern, hauchte ihr einen Kuss auf ihr langes Engelshaar, das ihr wallend über den schmalen Rücken fiel. Ihre veilchenblauen Augen himmelten ihn bittend an, ergriffen für ihren Bruder Partei, der es nicht verdient hatte.
Schlurfend betrat Philipp das Esszimmer, die Hände tief in den großen Taschen seiner weiten Jeans vergraben. Gelangweilt sah er seinen Vater an, dessen Augen zornig in seine Richtung sahen.
„Lass mich bloß in Ruhe, der Engel unserer Familie darf meiner, wohlgemerkt meiner Abschlussfeier beiwohnen und jetzt wäre es mir recht, wenn wir das Thema wechseln könnten, sonst werde ich nämlich woanders essen!“ Abfällig blickte Philipp seinen Vater an, der vor Wut beinahe platzte.
„Ich habe mir geschworen, nie, wirklich nie zu meinen Kinder zu sagen, dass sie sich zu benehmen haben, solange sie in diesem Hause wohnen, aber ich kann mich nur mit Mühe zurückhalten, diesen Satz über die Lippen zu bringen! Philipp, solange du noch hier wohnst, möchte ich, dass wir zivilisiert, innerhalb der gesamten Familie, miteinander umgehen. Könnten wir uns darauf einigen?“ Unterdrückte Wut schwang in seiner verhaltenen Stimme mit.
„Von mir aus! Ist das Thema jetzt vom Tisch?“ Ungeniert zog Philipp sich seinen Stuhl vom Tisch und setzte sich breitbeinig, die Beine von sich gestreckt, darauf. Nur seine Pokante berührte die Kante des Stuhles, sein Rücken lag an dem gepolsterten Rückenpolster auf.
„Jetzt essen wir!“ Energisch lenkte Sonja von Philipp ab. Der Unterredung ihrer Männer hatte sie zugehört, sie hatte den Unwillen Georgs und die Überdrüssigkeit Philipps gespürt. Weit hatte er sich von ihnen entfernt, zu weit!
Still nahmen sie die Mahlzeit ein, keiner traute sich die kurz vor der Detonation gespannte Luft noch mehr zu reizen.
Nach dem Essen half Lena ihrer Mutter das Geschirr in die Küche zu tragen, dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und erledigte ihre Hausaufgaben. In ihrem Zimmer erinnerte alles an ihren Hang zur Natur. An jedem freien Platz befanden sich schimmernde, funkelnde Steine, abgefallene Baumrinden, Kastanien, Eicheln und Bucheckern sowie weiches Moos. Aus Naturmaterialien hatte sie Traumfänger, Trommeln, kleine Flöße und Schiffe hergestellt. Ihr Bett war mit einer Bettwäsche überzogen, auf der eine verästelte Eiche mit einer tiefeingekerbten Rinde und saftigen Blättern aufgedruckt war.
Hier fand sie die Ruhe und den Frieden den sie benötigte, um Kraft zu tanken für den Schmerz, der Nils noch immer zugefügt wurde. Nicht mehr so oft wie früher ließ Herr Keller die Wut an seinem erwachsen gewordenen Sohn aus, der ihn in der Zwischenzeit um über eine Kopflänge überragte, aber wenn er anfing auf ihn einzuprügeln, ihn die Treppe hinunterzuwerfen oder mit einem Gürtel auszupeitschen, dann war es heftiger und gewalttätiger als zu seiner Kinderzeit. Unsagbar litt Nils darunter, dass er es nicht fertig brachte, sich zu wehren, nicht ein einziges Mal hatte er seinem Vater Paroli geboten. Stumm ließ er alle Misshandlungen über sich ergehen. Nicht einmal mehr Tränen waren in seinen
Weitere Kostenlose Bücher