Engel der Kindheit
aus, drehte ihrem großen Sohn den Rücken zu und schälte weiter die geernteten Äpfel ihres eigenen Baumes, um daraus einen Apfelkuchen für den Nachmittag zu backen. Weshalb hatte er sich so anders entwickelt, als es ihre eigene Art war? Weder Georg, noch sie, gingen so mit den Gefühlen ihrer Mitmenschen um. Das, was Lena zu viel an Hilfsbereitschaft und Mitgefühl abbekommen hatte, hatte Philipp zu wenig in seinem Wesen. Berechenbar und hart war er, auf eine gewisse Weise arrogant und selbstherrlich. Es schnitt Sonja ins Herz, wenn sie ihren Erstgeborenen betrachtete, der nicht schnell genug das Elternhaus verlassen konnte. Natürlich wusste sie, dass sie ihn ziehen lassen musste, aber ebenso wusste sie, dass er nie wieder den Weg zu ihren Herzen finden würde.
„Es geschieht ja immer, was du dir in den Kopf setzt, ich habe in diesem Haus sowieso nichts zu melden! Ich bin so froh, wenn ich hier endlich herauskomme!“ Ungehalten schrie Philipp seine Mutter an, die mit Tränen in den Augen gegen das Aufschluchzen ankämpfte. In Wut verließ er die helle Küche. Zuschmetternd warf er die Türe zu seinem Zimmer ins Schloss, dumpf hallte das Geräusch durch das ganze Haus.
„Hallo, Mami!... Was ist mit dir, du hast doch geweint?“ Alarmiert stellte Lena ihre Schultasche in die Ecke des Korridors, liebevoll legte sie den Arm um die Schultern ihrer Mutter.
„Philipp! Er möchte nicht, dass du zu seiner Abschlussfeier in einer Woche kommst! Er hat Angst, dass du ihn blamierst, wenn es ein Spanferkel am Spieß zum Essen gibt!“ Traurig sah Sonja ihre schöne, engelsgleiche Tochter an, die ihre liebreizenden Gesichtszüge nicht verloren hatte, obwohl sie nahezu erwachsen war.
„Ich brauch’ ja nicht zum Essen zu kommen und ich versprech’ ihm, dass ich jedes Wort auf die Goldwaage legen werde. Außerdem ist er sowieso mit seiner Clique an diesem Tag zusammen und wird mich nicht zu Gesicht bekommen. Wenn er will, bleibe ich auch zu Hause, es ist mir gleichgültig!“ Obwohl das nicht stimmte! Unbedingt wollte Lena dabei sein, wenn Nils sein bestandenes Abitur überreicht bekam. So stolz war sie auf ihn, dass er als Jahrgangsbester abgeschnitten hatte, ihr Bruder interessierte sie nicht!
„Aber ich möchte, dass du dabei bist! Auch zum Essen! Immerhin gibt es außer dir noch genügend andere Vegetarier. Du bist schließlich nicht die Einzige, die kein Fleisch und keinen Fisch isst. Du lässt jeden das essen, was er essen möchte, ohne einem den Appetit zu verderben. Noch nie habe ich von dir gehört, dass du andere versucht hast zu überreden, ebenfalls Vegetarier zu werden und ich akzeptiere deine Entscheidung!“ Erbost über ihren großen Sohn hatte Sonja sich in Rage geredet.
„Ich werde mit ihm sprechen!“ Die Augen zur Decke kreisen lassend, ergriff Lena ihre Schultasche, stellte sie in ihr Zimmer und klopfte an der verschlossenen Türe ihres Bruders.
„Ich bin es, Lena!“
„Was willst du?“ Durch die geschlossene Türe drang seine Stimme hölzern an ihr Ohr.
„Ich möchte mit dir reden, mach bitte die Türe auf!“ Gut eine Minute wartete Lena, bis sie von innen ein schlurfendes Geräusch vernahm, sie wusste genau mit was für einem widerwilligen Gesichtsausdruck ihr Bruder die Türe nun öffnen würde.
„Was gibt’s?“ Breitbeinig stand er im Türrahmen, nicht bereit sie in sein Zimmer zu lassen.
„Mama weint wegen dir! Ich wollte dir nur sagen, dass ich dich nicht blamieren werde, ich werde keinen Ton über das Essen sagen und ich werde dich nicht beachten, wie wir es schließlich schon Jahre in der Schule praktiziert haben. Darf ich dann mit?“ Offen blickte sie ihm in die müden Augen. Jede Nacht kam er zu spät ins Bett, trank zuviel Alkohol und genoss die schulfreie Zeit in vollen Zügen.
„Von mir aus! Das, was ich möchte, zählt hier sowieso nicht! Mach doch was du willst, solange du mich in Frieden lässt!“ Augenblicklich schlug er ihr die Türe vor der Nase zu.
„Idiot!“ Kopfschüttelnd betrat Lena ihr ebenerdiges Zimmer, sofort schob sie die luftig weißen Vorhänge zur Seite und öffnete die beiden Terrassentüren. Tief atmete sie die frische, laue Luft ein, die ihr entgegenwehte. Unbewusst hielt sie nach Nils Ausschau, obwohl sie sich sicher war, dass er im Hafen sein würde.
Kurze Zeit später rief ihre Mutter zum Mittagessen. Schweren Herzens trennte Lena sich von der beruhigenden Aussicht über den gepflegten Garten, in dem die ausladenden, zitronengelben
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