Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
Beginn eines neuerlichen
Leidensweges stand. Da er dies als sein Schicksal betrachtete und es einer Lästerung
gleichkam, das eigene Dasein mit dem seines Herrn zu vergleichen, besann er sich
und nahm den Gesprächsfaden wieder auf. »Euer Vertrauen in allen Ehren, aber meint
Ihr nicht auch, dass das ein wenig voreilig ist?«
»Keineswegs, mein Sohn.«
»Von innen verriegelt, Bruder! Alle beide. Und
abgeschlossen.« Einen Schlüsselbund in der Hand, trat der Sakristan aus dem Dunkel,
verwahrte ihn in der Gürteltasche aus Ziegenleder und gesellte sich wieder zu Bruder
Hilpert, der die Nachricht mit regungsloser Miene quittierte. »Von der Herrngasse
aus käme nicht mal eine Maus hier rein.«
»Conclusio [41] : Mich dünkt, Ihr irrt, Vater Alban. Vertrauen ist gut,
Wachsamkeit besser.«
»Hilpert, wie er leibt und lebt!«, rief Bruder
Alban frohgemut aus, durch die Rüge aus dem Munde des wesentlich jüngeren Bibliothekarius
nicht im Mindesten gekränkt. »Ein Inquisitor, zu dem man dem Zisterzienserorden
nur gratulieren kann. Und du willst mir weismachen, du hättest vom Fällelösen genug.«
»Wozu sich an mich wenden, wenn es einen Stadtrichter
gibt? Oder trachtet Ihr danach, Euch Ärger einzuhandeln?«
»Genau das ist der Punkt, mein Sohn«, erwiderte
Bruder Alban, kleinlaut wie ein pflichtvergessener Novize. »Du musst wissen, dass
wir uns über einen Mangel an Ärger derzeit nicht beklagen können. Man neidet uns
den Zulauf, den unsere Gottesdienste genießen, unsere Liegenschaften, Einkünfte
an Naturalien, Einnahmen aus dem Bettel, Bargeldreserven, Schenkungen, einfach alles.«
Bruder Albans Miene verdüsterte sich. »Weißt du was, Hilpert? Manchmal denke ich,
die Leute haben recht.«
»Womit denn?«
»Da gibst du vor, in die Fußstapfen des Herrn
zu treten, gelobst Keuschheit, Gehorsam und immerwährende Armut. Und was geschieht?
Dein Orden wird immer wohlhabender und schwimmt beinahe im Geld. In einem Ausmaß,
dass er sich jedes Jahr ein halbes Dutzend Häuser unter den Nagel reißen könnte.
Kein Wunder, dass uns manch einer gerne ein Bein stellen würde. Schließlich zahlen
wir keine Steuern.«
»Mit anderen Worten: Ihr befürchtet, Euer Orden
könne durch besagten Vorfall Schaden nehmen.«
»Recte.« [42]
»Weshalb Ihr es vorzöget, wenn bis auf Weiteres
nichts nach außen dringen würde.«
»Exakt.«
»Und für wie lange?«
»So lange es irgend geht, mein Sohn.« Nachdenklich
geworden, fuhr Bruder Alban mit Daumen und Zeigefinger an der Kinnspitze entlang
und ließ den Blick zwischen dem Sakristan und Bruder Hilpert hin und her wandern.
»Ich weiß nicht, aber mir scheint, als habe der Leibhaftige seine Hände im Spiel.«
Der Kustos bekreuzigte sich, kreidebleich vor
Schreck. Bruder Hilpert dagegen verzog keine Miene. »Wie darf ich das verstehen?«
»Ganz einfach. Es handelt sich nicht um den
einzigen Vorfall dieser Art.« Die Miene des Lektors wurde noch ernster als zuvor.
»Jetzt kann ich es dir ja sagen, Hilpert.«
Der Angesprochene schwieg und wartete, bis sich
Bruder Alban ein Herz gefasst hatte.
»Heute Morgen, etwa zwei Stunden nach Sonnenaufgang,
hat unser Totengräber auf dem Schindanger der Gehängten eine Entdeckung gemacht.«
»Ein leeres Grab, hab ich recht?«
Der Kustos, an den Bruder Hilperts Frage gerichtet
war, bejahte und mied Bruder Hilperts Blick.
»Merkwürdig, nicht?«
»Durchaus, Vater. Aber eins nach dem anderen.«
»Du hast recht, Hilpert. Ach, übrigens, bevor
ich es vergesse: »Ich finde, es ist höchste Zeit, die Familie der … der Entschlafenen
über die höchst unglückseligen Vorkommnisse in Kenntnis zu setzen.«
»Ihre Familie? Haltet Ihr das wirklich für eine
gute Idee? Apropos – um wen genau handelt es sich bei der Toten überhaupt?«
»Um Tuchscherers Frau.«
Bruder Hilpert glaubte, er habe sich verhört.
»Wie bitte? Um Tuchscherers Frau? Und warum habt Ihr mir das nicht früher gesagt,
Vater?«
»Weil du nicht danach gefragt hast – darum!«
Für seine Verhältnisse ungewöhnlich barsch, stampfte Bruder Alban auf und fragte:
»Also, was ist? Wirst du mir nun helfen oder nicht?«
»Dazu müsste ich erst einmal wissen, mit wem
ich es zu tun bekomme, oder?«
»Mit einer Sippe, welche über so viel Macht
und Einfluss wie kaum eine andere verfügt. Und, nebenbei bemerkt, mit äußerst freigiebigen
Gönnern unseres Klosters. Die Wernitzerin wird Gift und Galle spucken, wenn sie
von … von unserem Missgeschick erfährt. Mit der ist
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