Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
auseinanderstehende Wangenknochen und
die dunklen Augen ganz besonders hervor. Das Auffälligste an ihm war jedoch seine
Stimme, bei deren Klang jedwedes Geräusch erstarb und sich die Blicke der Anwesenden
automatisch auf den Sprechenden hefteten. Tief, wohltönend und weich, haftete ihr
sowohl etwas Einschmeichelndes als auch zutiefst Ehrfurchtgebietendes an. Ein Eindruck,
der durch seine asketische Erscheinung, das Respekt heischende Auftreten und den
durchdringenden Blick, mit dem er die anwesenden Patrizier musterte, noch verstärkt
wurde. »Falls ja, kann ich Euch gerne auf die Sprünge helfen.«
Keiner der Anwesenden meldete sich zu Wort,
schon gar nicht der Notarius, dem die geharnischte Replik sichtlich zugesetzt hatte.
Der Asket in Schwarz quittierte es mit unverhohlener Genugtuung, verließ seinen
Platz am Fenster, das den Blick auf den menschenleeren Marktplatz eröffnete, und
gesellte sich zu dem Kreis der in Ehren ergrauten Patrizier, welche ihn mit einer
Mischung aus Respekt und Beklommenheit musterten. »Nein? Dann schlage ich vor, man
möge dem Herrn Bürgermeister Gelegenheit geben, sein Anliegen vorzutragen. Wenn
möglich, ohne ihn dabei zu unterbrechen.«
»Habt Dank, Meister Bermetter!«, erwiderte der
Angesprochene und hantierte an seiner Amtskette herum, nach Kräften bemüht, Autorität
auszustrahlen. »Worauf ich hinauswill, ist Folgendes: Mir ist zu Ohren gekommen,
dass es unter den Kandidaten, welche sich bei den anstehenden Wahlen um einen Sitz
im Rat bewerben, solche gibt, die … äh … die …«
»Weder geeignet noch würdig sind, dem erlauchten
Gremium anzugehören.«
»Genau, Meister Bermetter. Um wen es sich handelt,
muss ich hoffentlich nicht aussprechen.«
»Doch nicht etwa um Euren Schwager, Bermetter?«
»Ich sehe, Ihr denkt mit, Amtmann.« Die Handflächen
aneinandergelegt, führte Heinrich Bermetter, Tuchhändler, Ratsmitglied und verhinderter
Student der Medizin, die feingliedrigen Finger zum Mund und tauchte in den Blick
des Fragestellers ein. Der seinige hatte etwas Hypnotisches an sich, weshalb der
Amtmann, der die Aufsicht über Nordenberg hatte, ihm nicht standhalten konnte und
die Augen niederschlug. »Ihr habt das Wort, Bürgermeister, oder liege ich da falsch?«
Peinlich berührt, vertiefte sich die Rötung
auf Leberechts Gesicht. »Machen wir es kurz, erlauchte Anwesende!«, flüchtete er
sich in einen salbungsvollen Ton, ein untaugliches Mittel, um seinen Autoritätsverlust
wettzumachen. »Ich denke, wir sind uns einig, dass Zeitgenossen vom Schlage eines
Laurenz Tuchscherer im Inneren Rat unserer Heimatstadt nichts zu suchen haben. Dies
hier ist ein Gremium verdienter Bürger, von Einwohnern, die sich um diese Stadt
verdient gemacht haben und danach trachten, ihren Ruhm und die Reputation, welche
sie landauf, landab genießt, zu mehren.«
»Ihren Nutzen nicht zu vergessen.«
»Selbstredend, Notarius, wo kämen wir da hin.
Machen wir es also kurz: Mein Ansinnen, erlauchte Anwesende, geht dahin, Tuchscherer
von der Liste möglicher Kandidaten zu streichen und zu verhindern, dass wir uns
eine Laus in den Pelz setzen, die uns nichts als Ungemach bereiten wird. Ich denke,
wir sind uns einig, oder?«
»So viel zum Thema Freie Reichsstadt!«, amüsierte
sich der Steuermeister, zwar nicht mit einem Übermaß an gesundem Menschenverstand,
dafür aber mit einem gesunden Appetit gesegnet, wandte sich ab und trat an den Schragentisch
zu seiner Rechten, um sich an den bereitliegenden Leckerbissen gütlich zu tun. Leberecht
hatte seinem Namen einmal mehr Ehre gemacht und alles aufgefahren, was Küche und
Keller hergaben. Hans Spörlein lief das Wasser im Mund zusammen, und die Entscheidung,
wo er zuerst hingreifen sollte, setzte ihm mehr zu als der gegenwärtige Disput.
Forellen im Teigmantel, frische Erbsen, Feigen in Gewürzweingelee, Apfelringe, Dattelkompott
oder vielleicht doch lieber Rosenküchlein? Der Steurer entschied sich für Letztere,
öffnete den Mund und schloss verzückt die Augen.
Bevor er zubeißen konnte, wurde ihm der Appetit
jedoch gründlich verdorben. »Erst die Arbeit, Spörlein, und dann das Vergnügen!«,
fuhr Bermetter den verhinderten Genießer an, entwand ihm das himmlisch duftende
Süßgebäck und legte es auf den Tisch zurück. »Euer Hang zu Gaumenfreuden in Ehren,
aber ich denke, wir sind nicht zum Schlemmen hier.«
»Auf ein Wort, Bermetter!«, sprang der Johannispfleger
in die Bresche, schob den Aufseher über die städtischen
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