Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
ganzen Leibe zitternd und stumm vor Hilflosigkeit, Zorn
und aufkeimendem Entsetzen. Bruder Alban hingegen wirkte gefasst, was Bruder Hilpert
der Tatsache zuschrieb, dass den weit gereisten und mit den Fährnissen des Erdendaseins
vertrauten Greis ohnehin nichts erschüttern konnte. Nicht umsonst galt der unverwüstliche
Minorit als wahrer Stoiker vor dem Herrn, als ein Mann, der sich durch nichts aus
der Ruhe bringen ließ.
Von Ruhe oder gar Abgeklärtheit
konnte bei Bruder Hilpert allerdings nicht die Rede sein. Dies war in der Tat ein
Frevel, der seinesgleichen suchte, und er fragte sich, wohin der Leichnam, dessen
Ausdünstungen immer noch über dem Katafalk schwebten, mitten in der Nacht verschwunden
war. Leichendiebstahl war ein schwerwiegendes Delikt und wurde mit dem Tod durch
den Strang bestraft. Daraus folgte, dass der oder die Täter einen triftigen Grund
gehabt haben mussten. Bruder Hilpert fröstelte. Beim Gedanken an ein mögliches Motiv
versagte seine Fantasie, und da er von Spekulationen nichts hielt, ließ er das Räsonieren
sein und wandte seine Aufmerksamkeit den beiden Minoritenbrüdern zu. »Ein Verbrechen,
wie es nicht alle Tage geschieht, findet Ihr nicht auch?«
»Und wer sagt dir, dass wir es mit einem Verbrechen
zu tun haben?«
»Mit was denn sonst?«, gab Bruder Hilpert an
die Adresse seines Gesprächspartners zurück, nicht ohne einen Hauch von Schärfe,
wie er verschämt konstatierte. Gegenüber einem Mitbruder ziemte sich ein derartiger
Tonfall nicht. Gerade er hätte dies eigentlich wissen müssen.
»Genau das ist die Frage, Herr Inquisitor.«
Auf seinen Stock gestützt, verzog Bruder Alban keine Miene und beugte sich über
die rechte Sargwand, um ihre mit Samt beschlagene Innenseite zu inspizieren. Ganz
anders der Kustos, auf den die Abgeklärtheit seines Mitbruders alles andere als
beruhigend wirkte. »Oder wäre es dir lieber, wenn ich dich mit ›mein Sohn‹ anrede?«
»Wenn Ihr mich so fragt, Vater, fällt mir die
Antwort leicht!«, gab Bruder Hilpert lächelnd zurück. »Zumal ich hier nur Gast bin
und es mir nicht zusteht, mich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen.«
»Merkwürdig!«, rief Bruder Alban aus und hielt
es offenbar nicht für nötig, seine Worte zu kommentieren. Kurz darauf umrundete
er den Katafalk und deutete mit dem Stock auf den Sargdeckel, der unweit von ihm
auf den Steinfliesen lag. »Was meinst du – wieso hat der Täter den Deckel nicht
einfach wieder auf den …«
»Und wer sagt Euch, dass der Frevler auf sich
allein gestellt war? Bei allem gebührenden Respekt, Vater: Um solch eine Tat auszuführen,
bedarf es eines Komplizen. Ohne ihn wäre der Eindringling wohl kaum in der Lage
gewesen, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.«
»Und wie kommst du darauf?«
»Gegenfrage: Wie viele Eingänge führen in diese
Kirche?«
»Fünf. Zwei von der Herrngasse, die übrigen
vom Kloster aus. Wieso fragst du?«
Ohne den Blick vom Katafalk abzuwenden, blieb
Bruder Hilpert die Antwort schuldig, winkte den Kustos zu sich heran und flüsterte
ihm etwas ins Ohr. Der wiederum nickte stumm und entschwand in Richtung der hinteren
Tür. »Ad zwei [40] :
Haltet Ihr es für möglich, Vater, dass ein Mitglied des hiesigen Konvents mit dem
oder den Frevlern unter einer Decke steckt?«
»Ausgeschlossen. Für meine Mitbrüder würde ich
die Hand ins Feuer legen.«
»Tatsächlich?« Tief in Gedanken, warf Bruder
Hilpert einen Blick auf den Lettner, an dessen Oberkante sich eine hölzerne Brüstung
befand. Sie reichte über die gesamte Breite des Kirchenschiffes, war gut fünf Fuß
hoch und in ein Dutzend Felder eingeteilt, die mit Motiven aus der Passionsgeschichte
bemalt waren. In der Mitte, direkt über dem Durchgang zum Mönchschor, waren zwei
Schiebetüren angebracht, die den Blick auf den dahinter liegenden Altar freigaben.
Der Lettner fungierte somit als eine Art Bühne, von der aus der Klostervorsteher
zu den Gläubigen predigen konnte. Bruder Hilpert musste wider Willen schmunzeln.
Selbst für die Franziskaner, knapp eineinhalb Jahrhunderte in der Stadt präsent,
waren beileibe nicht alle Menschen gleich, was der Beliebtheit, der sie sich erfreuten,
jedoch keinen Abbruch tat. Die Gläubigen strömten in Scharen, und das, obwohl es
keine Kirchenbänke gab.
Die Geißelung seines Schöpfers und das darüber
emporragende Lettnerkruzifix vor Augen, seufzte der Bibliothekarius leise auf, verstand
er das Motiv doch als einen Fingerzeig, dass auch er, Hilpert, am
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