Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
werden
können. Das heißt, die Luft entspricht dem Blut, das Feuer der gelben, die Erde
der schwarzen Galle und das Wasser zu guter Letzt dem Schleim. Sind die oben erwähnten
Körpersäfte gleichmäßig auf den menschlichen Organismus verteilt und befinden sich
im Einklang miteinander, wird demjenigen, welcher sie beherbergt, schwerlich Böses
widerfahren. Mit einem Wort: Er wird sich, so Gott will, allzeit bester Gesundheit
erfreuen und allzeit guten Mutes sein. Gewinnt jedoch einer der Säfte die Oberhand,
wird dies dem Betreffenden unter Umständen große Pein zufügen, je nachdem, ob es
sich um Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker oder Phlegmatiker handelt. Steht
doch unwiderruflich fest, dass das Blut heiß und feucht, die gelbe Galle heiß und
trocken, die schwarze kalt und trocken, und der Schleim, welcher das Gehirn durchströmt,
bei jedem von uns kalt und feucht ist. Ergo: Es gilt, unsere Leidenschaften zu zügeln,
ganz gleich, wie sie beschaffen sein mögen. Auf dass der Weltenverderber, auch Satan
genannt, zu keiner Zeit die Oberhand über uns gewinnen möge!« Berauscht von den
eigenen Worten, zog der Professor sein Schweißtuch unter der Robe hervor, betupfte
die hohe, von schwindender Haarpracht bekränzte Stirn und fügte triumphierend hinzu:
»Was für Hippokrates gilt, wurde im Übrigen durch allerlei Koryphäen bestätigt,
per exemplum durch Galen, Leibarzt des römischen Kaisers Marcus Aurelius [12] , durch Plinius den
Älteren [13] sowie auch durch
Pedanios Dioskurides [14] ,
woraus folgt, dass …«
»Irren menschlich ist und besagte Herren völlig
vergreiste Quacksalber waren!«
»… die von mir vorgetragenen
Sachverhalte wohl fundiert und unwiderlegbar … was habt Ihr gerade eben gesagt?«
Aller Augen, auch die des Prosektors, dem der
Zeigestab vor Schreck beinahe aus der Hand gerutscht wäre, waren zunächst auf Bruder
Hilpert gerichtet, wandten sich jedoch unmittelbar darauf der Gestalt zu seiner
Linken zu, welche sich von den übrigen Anwesenden allein schon aufgrund ihrer Kleidung
unterschied. Bruder Hilpert wunderte sich, warum ihm die Person im schwarzen Umhang
nicht schon früher aufgefallen war, unterschied sie sich doch komplett von den übrigen
Studenten, von denen einer den anderen in puncto Kleidung zu übertrumpfen versuchte.
Viel zu sehen war von ihrem Gesicht indessen nicht, dank einer Kapuze, welche der
Gestalt beinahe bis zur Nasenspitze reichte und die Augenpartie komplett verhüllte.
Das einzig Auffällige an ihrer Gewandung, unter der ein Paar schwarze Stiefel hervorlugten,
war die silberne Spange, welche das pechschwarze Gewand zusammenhielt und dem Geschöpf
ein beinahe mystisches Gepräge verlieh.
»Wer gibt Euch das Recht, unaufgefordert das
Wort zu ergreifen – sprecht!«
Ohne einen Blick auf die Umstehenden zu verschwenden,
verharrte die schwarz gewandete Gestalt auf der Stelle und stierte mit gesenktem
Blick vor sich hin. Dann aber, der Gaffer offenbar überdrüssig, stieß sie ein verächtliches
Schnaufen aus, machte eine wegwerfende Geste und wandte sich zum Gehen.
Zurück blieben zwei Dutzend Medizinstudenten,
die Gesichter immer noch schreckensbleich, ein in seiner Ehre gekränkter Professor
und ein fassungsloser Prosektor, der wie sein Herr und Meister vergeblich nach Worten
rang. Zurück blieb aber auch ein hagerer Mittdreißiger im Habit der Zisterzienser,
der den Vorfall, dessen Zeuge er gewesen war, so schnell nicht vergessen würde.
*
»Nanu, welche Laus ist denn dir über die Leber
gelaufen?«, rief Berengar von Gamburg, Vogt des Grafen von Wertheim, schon von Weitem
aus, als er Bruder Hilpert einsam und frierend am Rande des Kornmarktes stehen sah.
Gegen die klirrende Kälte war kein Kraut gewachsen und ihm war, als seien seine
Kukulle [15] , die
dazugehörige Tunika [16] und
die Beinkleider aus Schafswolle samt den kuhledernen Schuhen aus Papier. Vom Turm
der Heiliggeistkirche, nur einen Steinwurf weit entfernt, erklang gerade das Mittagsläuten,
was Bruder Hilpert, dessen vergrübelte Miene sich beim Auftauchen seines besten
Freundes kaum merklich erhellte, jedoch kaum wahrzunehmen schien. »Nichts für schwache
Nerven, so eine Sektion, hab ich Recht?«
»Als ob ich das nicht schon vorher gewusst hätte,
Berengar.«
»Wollt ihr wohl aufhören, euch zu zanken!«,
kam Irmingardis, Berengars Verlobte, einer launigen Bemerkung ihres künftigen Gatten
zuvor, hakte sich bei ihm und Bruder Hilpert unter und zog das ungleiche Paar
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