Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
nahmen, als sei der
Leibhaftige hinter ihnen her. Diese Zeiten waren jedoch längst vorbei. Er hatte
sich damit abgefunden, wie im Übrigen auch mit seinem Refugium, dem Henkersturm,
welcher in sicherer Entfernung zum Markt und in unmittelbarer Nähe des Judenfriedhofes
lag. Friedhelm war es zufrieden. Dorthin, wo sich ehrbare Bürger die Klinke in die
Hand gaben, zog es ihn ohnehin nicht mehr. Auch diese Zeiten waren vorbei. Was nützte
es ihm schon, wenn er die Johanniskirche durch die Seitenpforte betreten durfte,
dabei aber Gefahr lief, mit Schimpf und Schande davongejagt zu werden. Oder wenn
er Wirtshäuser und Bäder nur von außen sehen durfte. Doch wohl nicht das Geringste.
Überhaupt konnte er von Glück sagen, dass er eine Frau gefunden hatte, sonst wäre
das Dasein, welches er fristete, nicht zu ertragen gewesen. Hieß es doch, wer den
Henker berühre, werde unrein, was ihm bei der Geburt seines Sohnes beinahe zum Verhängnis
geworden wäre. Keine Hebamme, die sein Haus betreten, kein Arzt, der sich auch nur
in seine Nähe gewagt hätte.
Doch Friedhelm war das Glück hold geblieben.
Denn es gab jemanden, der ihm mit Rat und Tat zur Seite gestanden, jemand, der ihm
aus der Patsche geholfen hatte. Jemand, den er jetzt, da er um Hilfe gebeten worden
war, nicht im Stich lassen konnte. »Und was, wenn man uns auf die Schliche kommt?«
»Wenn, dann doch wohl mir!«, versetzte die anziehende
und samtweiche Stimme, die ihn seit jeher in ihren Bann gezogen hatte, nicht ohne
einen Hauch von Spott, welcher sich im Geheul des Windes, des knarrenden Geästs
und des wie entfesselt hin und her wogenden Gestrüpps jedoch alsbald wieder verlor.
»Darauf gebe ich Euch mein Wort.«
»Amen!«, entgegnete Friedhelm voller Hohn, rieb
sich die taub gewordenen Hände und näherte sich der Grube, um einen Blick auf den
in grobes Sackleinen gehüllten und mit Hanfstricken verschnürten Leichnam zu werfen,
dessentwegen er die Torheit, für die er sich bereits mehrfach verflucht hatte, auf
sich genommen hatte. Noch war der schmächtige Körper nicht dabei, sich in seine
Bestandteile aufzulösen, noch schien es, als sei die Kreatur, welche am Vorabend
verscharrt worden war, gerade eben erst zur letzten Ruhe gebettet worden.
Friedhelm wusste natürlich, dass dies nicht
stimmte, ein Blick auf die Würmer, Maden und Käfer, welche in den Lichtkegel seiner
Laterne gerieten, genügte vollauf. In zwei, längstens drei Tagen würde der Fäulnisprozess
einsetzen, was bedeutete, dass von der Hülle aus Sackleinen und ihrem vergänglichen
Inhalt bald nicht mehr viel übrig sein würde. Wie hieß es doch gleich? ›Denn du
bist Erde und sollst zu Erde werden.‹ [21]
Friedhelm, nicht gerade ein Freund der Pfaffen,
beileibe jedoch kein Leugner der Worte des Herrn, deutete ein Nicken an, als wolle
er sich selbst Mut zusprechen, stellte seine Laterne wieder ab und ließ sich vorsichtig
in die Grube gleiten. Ihr Rand gab ein wenig nach und er konnte von Glück sagen,
dass er mit seinen fünfeinhalb Fuß zwar recht groß, darüber hinaus aber hager und
beinahe schon ein Leichtgewicht war.
Am Fußende angekommen, holte
der Scharfrichter tief Luft, drehte sich um die eigene Achse und beäugte das fest
verschnürte Bündel, über dem sich eine hauchdünne Schneeschicht ausgebreitet hatte.
Er kannte die zarte Maid, welche es barg, kannte die Umstände, unter denen sie zu
Tode gekommen war, wusste um ihre Qualen. Kein Wunder also, dass ihm sein Vorhaben
erhebliches Kopfzerbrechen bereitete. Ausgerechnet ihm, der er bereits mehrere Dutzend
Menschen auf jede nur erdenkliche Art und Weise vom Leben zum Tode befördert hatte.
Das Schicksal der 14-Jährigen ließ ihn indes nicht kalt, obwohl er der Letzte gewesen
wäre, der dies offen zugegeben hätte.
»Was plagt Euch, Meister Flegler – befindet
Ihr Euch nicht wohl?«, ließ sich die Gestalt vernehmen, nur eine Armlänge von ihm
entfernt. »Oder plagt Euch am Ende gar das Gewissen?«
»Wenn ich ehrlich bin – ja. Ich finde, wir sollten
den armen Teufel in Ruhe lassen. Was kann die kleine Egerter denn dafür, dass …«
»Dass sowohl die Kirche als auch der Rat unserer
weithin berühmten Freien Reichsstadt sich weigern, Selbstmördern ein christliches
Begräbnis zuteilwerden zu lassen, meint Ihr? Nichts kann sie dafür, gar nichts.«
»An Eurer Stelle würde ich den Mund nicht so
voll nehmen – es sei denn, Ihr legt es darauf an, im Stadtgefängnis zu landen.«
Die Antwort auf Friedhelms
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