Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
Leichnam in den Armen und machte sich ebenfalls auf den kurzen
Rückweg in die Stadt, begleitet vom Heulen der Wölfe, welches sich kurz darauf in
der Morgendämmerung verlor.
Zweites Kapitel
Rothenburg ob der Tauber, einen halben Tag später
Superbia [24]
3
Kirche des heiligen Jakobus , Ende der elften Stunde, knapp eineinhalb Stunden vor Sonnenuntergang │ [16.00 h]
»Du musst wissen, mein Kind«, vertraute Jutta Küchenmeister von Nordenberg,
Priorin des Dominikanerinnenklosters und auf den Tag genau 54 Jahre alt, ihrer Nichte
an, während sie mit ihr vor der Heilig-Blut-Reliquie kniete, »dass man gegenüber
uns, den Dienerinnen Gottes, die geziemende Ehrerbietung allzu häufig vermissen
lässt. Das Gleiche gilt für die Mitglieder des Johanniterkonvents, woran diese allerdings
nicht ganz unschuldig sind.«
»Wie das?«, lautete die Antwort des Schwesterkindes,
weniger an dem Redeschwall ihrer Tante als vielmehr an dem Reliquienkreuz mit der
Kapsel aus Bergkristall interessiert, derentwegen es jährlich Tausende von Pilgern
in die Freie Reichsstadt zog.
»Es hat viel böses Blut gegeben, mein Kind,
mehr, als uns allen lieb sein konnte. Und darüber hinaus jede Menge Zank und Hader
zwischen den Ordensleuten auf der einen und Bürgern auf der anderen Seite. Sagen
wir es einmal so: Es wird behauptet, unsere Brüder vom Orden der Johanniter hätten
ein nicht gerade gottgefälliges Leben geführt, wider ihr Gelübde gehandelt und den
Freuden des Erdendaseins auf das Schamloseste gefrönt.«
»Freuden – wie meint Ihr das?«
In ihrem Groll kaum zu besänftigen, gab die
korpulente, scharfzüngige und mit weißem Gewand, schwarzem Mantel und Schleier bekleidete
Priorin ein erbostes Fauchen von sich, rappelte sich mühsam auf und bedeutete Irmingardis,
ihr zu folgen. Diese tat, wie ihr geheißen, drückte der Mesnerin einen Schilling
in die Hand und folgte der Priorin auf dem Fuße, welche die Seitenkapelle wie ein
Schiff mit geblähten Segeln verließ.
Wieder zurück im Ostchor, war ihr Zorn immer
noch nicht abgeklungen, ungeachtet der Tatsache, dass sie sich in einem Gotteshaus
befand. Das hinderte sie nicht daran, die Wut an ihrem Gehstab auszulassen, den
sie im Stil eines Zeremonienmeisters auf die Steinfliesen niedersausen ließ. Jutta
von Nordenberg kannte kein Pardon, am heutigen Tage weniger denn je.
Kaum größer als fünf Fuß, eilte ihr der Ruf
großer Entschlossenheit voraus, vor allem was die Belange ihres Ordens betraf. Geriet
sie in Zorn, gab es nichts, was sie besänftigen konnte, wovon ihre Schutzbefohlenen,
gut zwei Dutzend Dominikanerinnen von überwiegend adeliger Herkunft, ein nicht enden
wollendes Lied singen konnten. »Nichts für deine Ohren, Irmingardis!«, wehrte Jutta
von Nordenberg kategorisch ab. »Lieber würde ich im Erdboden versinken, als die
Gerüchte, welche derzeit die Runde machen, vor dir breitzutreten!«
»Da sei Gott vor!«, heuchelte Irmingardis, nach
einer Kaskade fränkischer Rs und über zwei Stunden Stadtrundgang rechtschaffen müde,
tat wie die Unschuld in Person und sehnte das Ende der Schulmeistereien herbei,
die wie ein Sturzregen auf sie herniedergeprasselt waren. »Aber heißt es nicht auch,
die Johanniter gehören zu den größten Grundbesitzern der Stadt?«
»So, heißt es das!«, grummelte die Ehrfurcht
gebietende und stets auf Moral und Sittsamkeit bedachte Matrone, für die alle Menschen
Sünder, Männer unterschiedslos des Teufels und Schankstuben die Vorhöfe der Hölle
waren. »Wer hat dir denn solche Flausen in den Kopf gesetzt?«
»Nach den Dominikanerinnen, versteht sich.«
»Erstens: Der größte Grundbesitz befindet sich
in den Händen des Spitals zum Heiligen Geist.«
»Und zweitens?«
»Zum Zweiten solltest du dir nicht so viele
Gedanken machen, wer in der Gunst des Herrn an vorderster, zweiter oder dritter
Stelle steht. Unser Reich, mein Kind, ist nicht von dieser Welt. Das müsstest du
eigentlich wissen.«
»Amen. Über 200 Höfe, welche sich im Besitz
Eures Ordens befinden – wahrlich genug, findet Ihr nicht auch, liebste aller Tanten?«
»Kann es sein, dass dir dein Verlobter, dieser
… dieser ungehobelte Patron von einem Vogt, derlei Flausen in den Kopf gesetzt hat?«,
schnaubte die Priorin, drauf und dran, ihrer Nichte eine geharnischte Predigt über
den Wüstling zu halten, der angeblich in jedem Mann steckte. »Ehrlich gesagt, erkenne
ich dich überhaupt nicht wieder.«
»Was Berengar betrifft,
werte Tante, bitte
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