Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
spüren. Bis zu dem Punkt, an dem ihnen bewusst wurde, dass man ihr keine Angst
mehr einjagen konnte.
Seitdem hatte sie ihre Ruhe, umgeben von immerwährender
Dunkelheit, in die auch nicht der kleinste Lichtstreifen drang. Irmtrud ließ es
geschehen, ohne Murren, ohne Wehklagen, ohne die Verwünschungen, mit denen die übrigen
Gefangenen ihre Bewacher überschütteten. Es kümmerte sie nicht, wenn sich eine Ratte
an sie heranpirschte, ihr Gewand aus Sackleinen beschnupperte und sich anschließend
an verschimmeltem Brot labte. Oder wenn es so kalt wurde, dass der Schimmel an den
Wänden gefror und das Stroh so hart war, dass ihr der Rücken wehtat. Die alte Irmtrud
befand sich in einer anderen Welt, weit weg von denen, die ihr Martyrium zu verantworten
hatten. Das Einzige, woran sie sich klammerte, war die Hoffnung auf einen baldigen
Tod. Einen Tod, bei dem ihr keine Schmerzen oder Qualen oder neues Leid zugefügt
werden würde. Mehr erwartete sie nicht und sie flehte zu Gott, er möge ihr den Wunsch
erfüllen.
Was war das? Wie benommen vor sich hinstierend,
horchte die alte Irmtrud auf. Da draußen tat sich was, und während sie noch darüber
nachsann, ob ihr die Sinne einen Streich gespielt hatten, drang das Geräusch von
Schritten an ihr Ohr. Kurz darauf öffnete sich die Tür, und nach einem abermaligen
Knarren, das ihren Dämmerzustand jäh beendete, wurde das Innere ihrer Zelle von
einem Lichtkegel erhellt.
Irmtrud schrak zusammen, nicht etwa aus Furcht,
sondern weil ihr die Gestalt, welche regungslos auf der Schwelle verharrte, aus
einem unerfindlichen Grund bekannt vorkam. Zuerst dachte sie, es sei ihr Vater,
ein Gedanke, den sie umgehend wieder verwarf. Aber gewiss doch, der Vater war tot,
seit mehr als 30 Jahren schon. Das hätte sie eigentlich wissen müssen. Blieb also
nur einer ihrer Peiniger, doch je länger sie die Gestalt musterte, desto stärker
wurden ihre Zweifel. Die Raubeine, denen sie ausgeliefert war, rissen einfach die
Tür auf, brüllten drauflos oder drückten ihr die tägliche Essenration in die Hand.
Die blieben nicht stehen und starrten Löcher in die Luft.
Und vor allem trugen sie keine Maske vor dem
Gesicht.
Irmtrud Fuchslechner, der Giftmischerei bezichtigte
Amme ihres Augapfels Egberta, lächelte verzückt und stieß einen Seufzer der Erleichterung
aus. Der Tod, endlich! Gott der Herr hatte ihre Gebete erhört.
Aufgeregt wie ein kleines Kind, drehte sich
die Alte zur Wand, umklammerte einen vorspringenden Quader und rappelte sich auf.
Die Gicht, seit geraumer Zeit ihre Begleiterin, war verschwunden, verschwunden auch
die Mattigkeit, welche auf ihrem Gemüt lastete. Ein Lächeln im ausgemergelten Gesicht,
setzte sich Irmtrud in Bewegung und schlurfte auf die Tür ihrer Zelle zu. An die
Fußfesseln, die man ihr angelegt hatte, verschwendete sie keinen Gedanken, mochten
sie ihr noch so tief ins Fleisch schneiden und das Blut in den Adern zum Stocken
bringen. Irmtrud spürte sie nicht, ebenso wenig wie das Ungeziefer, welches sich
in ihrem zerzausten Haar eingenistet hatte. Hauptsache, Gevatter Tod war da. Und
würde ihrer Marter ein Ende bereiten.
Einen Atemzug später, als die Gestalt zum Greifen
nah war, hielt Irmtrud Fuchslechner inne und breitete die Arme aus. »Nimm mich zu
dir!«, flüsterte sie, bereit, in die Arme der schwarz gewandeten Gestalt zu sinken.
So sehr sie sich dies wünschte, ihre Hoffnung
erfüllte sich nicht. Nicht genug damit, wich die Gestalt einen Schritt zurück, gerade
so, als fürchte sie sich vor ihr. »Gräme dich nicht, Mutter!«, sprach sie mit fester
Stimme. »Gräme dich nicht und sei unverzagt. Nur noch ein paar Stunden, und du bist
frei. Das verspreche ich dir, bei allem, was mir heilig ist.«
Frei? Irmtrud war wie vom Donner gerührt. In
ein paar Stunden? Was hatte das zu bedeuten?
Und dann diese Stimme, weich wie Samt, hell
wie das Morgenläuten und wohltönend wie eine Harfe. Die Stimme eines Engels. Eines
Engels, der in Diensten der Rache stand.
Oder etwa die eines Trugbildes, das nur in ihrer
Fantasie existierte?
Irmtrud wusste weder ein noch aus, und als sei
dies nicht schon schlimm genug, meldete sich erneut die Angst zu Wort. Die Angst,
ihre Peiniger erlaubten sich einen Scherz mit ihr. Einen Mummenschatz, um ihr das
letzte Quäntchen Kraft, über das sie verfügte, zu rauben.
»Gräme dich nicht …«, begann die Gestalt aufs
Neue, wie um die Furcht, welche sie quälte, für immer zu zerstreuen. Ihre Worte
fanden jedoch kein
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