Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
ihr linker Flügel, worauf die Dienstmagd, mit der er bereits Bekanntschaft
gemacht hatte, aus dem Inneren des Hauses ins Freie trat. Die Blicke, mit denen
sie ihn musterte, waren die gleichen, ihre Bewegungen noch mechanischer als zuvor.
Ungewohnt war hingegen das Lächeln, welches ihre Lippen umspielte, und es dauerte
nicht lange, bis Bruder Hilpert eine Erklärung dafür fand.
Auf den ersten Blick sah das Bündel, über das
sich die zarte Maid beugte, wie ein Neugeborenes aus, und Bruder Hilpert musste
schon genau hinsehen, um zu erkennen, dass es sich um eine Puppe handelte. Schuld
daran war der Kopf, beinahe lebensecht und, wie er mit Beklommenheit registrierte,
vollständig aus Wachs. Rumpf und Beine waren dagegen mit einem Leinentuch umwickelt,
auf eine Weise, wie es bei Säuglingen geschah.
Der Bibliothekarius traute seinen Augen nicht.
Die Szene war so unwirklich, dass er sich in einem Traum wähnte, weshalb er es für
das Beste hielt, sich nicht von der Stelle zu rühren. Ein Blick zu Berengar überzeugte
ihn, dass sein Freund genauso dachte wie er, und so stand er einfach nur da und
ließ den Dingen ihren Lauf.
Dies war auch gut so, wenngleich er das, was
sich vor seinen Augen abspielte, nie und nimmer erwartet hätte. Kaum war das Mädchen
seiner ansichtig geworden, begann es leise vor sich hinzusummen, die Wachspuppe
fest an den schmächtigen Körper gepresst. Es handelte sich um eine alte Weise, ein
Wiegenlied, wie er es aus seiner Kindheit kannte. Einen verträumten Ausdruck im
Gesicht, bewegte sich die Dienstmagd daraufhin auf ihn zu, wie in Trance, doch mit
geradezu traumwandlerischer Sicherheit.
Und dann, zum Entsetzen der drei Beobachter,
geschah es. Ohne dass sie es hätten voraussehen können, zog die Maid plötzlich einen
Dolch unter dem Umhang hervor, riss der Puppe das Leinentuch vom Leib und stach
wie von Sinnen auf ihren Unterleib ein. Stach und stocherte und bohrte, bis ihr
Leib von Löchern durchsiebt und so verunstaltet war, dass es Bruder Hilpert schon
vom Hinsehen grauste.
Doch damit nicht genug. Keuchend vor Erregung,
holte das Mädchen zum letzten, alles entscheidenden Hieb aus, lächelte – und stieß
der Puppe das Messer zwischen die Beine.
Und bot sie Bruder Hilpert dar, ein triumphierendes
Lächeln im Gesicht.
Kalkweiß vor Entsetzen, wusste dieser nicht,
wie ihm geschah, und bedurfte eines Rippenstoßes von Berengar, um ihn wieder zur
Besinnung zu bringen. Und der Worte von Bruder Alban, die da lauteten: »Du brauchst
gar nicht erst zu versuchen, sie zur Rede zu stellen – Katharina kann nicht sprechen,
mein Sohn.«
11
Stadtgefängnis, zur gleichen Zeit │ [19.00 h]
In ihrer Kindheit, vor über fünf Dezennien, hatte sie stets Angst vor
dem Dunkeln gehabt. Ihrer Mutter hatte sie damit manch schlaflose Nacht und obendrein
jede Menge Aufregung beschert. Ihr Vater, ein Korbflechter, hatte darüber nur gelacht
und behauptet, mit der Zeit werde das vergehen. Und er hatte recht behalten. Die
Furcht war verschwunden, vom einen auf den anderen Tag.
Aber nicht für immer.
Vor zwei Tagen, beim Betreten ihrer Zelle, waren
die Ängste aus längst vergangenen Tagen wieder aufgetaucht. Verheerender denn je,
aus heiterem Himmel. Die Stadtknechte hatten darüber nur gelacht, wie weiland der
über alles geliebte Vater. Sie selbst war wie gelähmt gewesen, am Boden zerstört,
mit ihrer Kraft am Ende.
Das Gelächter indes hatte nicht aufgehört, war
immer lauter geworden, so schallend laut, dass sie sich die Ohren zuhalten musste.
Genützt hatte dies freilich nichts. Was sie auch tat, um sich seiner zu erwehren,
fruchtete nicht. Das Gelächter schwoll an, bohrte sich durch ihre knochigen Hände,
in ihren Gehörgang, in ihr Gehirn.
Und brachte sie schier um den Verstand.
Nicht etwa, dass Irmtrud, Wunderheilerin, Amme
und Kräuterweib in einer Person, von da an sich selbst überlassen gewesen wäre.
Dafür sorgten allein schon die Stadtknechte, die nichts unversucht ließen, um ihr
die letzten Tage auf Erden zu vergällen. Mal zeigte man ihr die Instrumente, wohl
wissend, dass sie bereits so alt und gebrechlich war, dass die Tortur, mit der man
ihr drohte, unweigerlich zum Tod geführt hätte. Mal riss man sie aus dem Schlaf,
um das Geständnis, welches sie abgelegt hatte, haarklein zu protokollieren. Oder
man kredenzte ihr verschimmeltes Brot und Hirsebrei, in dem es von Maden nur so
wimmelte. Ihr Leben war keinen Pfifferling mehr wert. Das ließen ihre Bewacher sie
auch
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