Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
Bruder
Alban, welche Überraschung!« Beim Anblick des väterlichen Freundes, der geradewegs
auf ihn zuhielt, hellte sich Bruder Hilperts Miene auf, wurde jedoch umgehend wieder
ernst. »Darf man fragen, was Euch zu mir führt? Noch dazu um diese Zeit?«
»Meine Neugier«, erwiderte der Tüftler prompt,
ein entwaffnendes Lächeln im Gesicht. »Was hast du denn gedacht!«
»Dumm nur, dass ich sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt
nicht befriedigen kann!«, versetzte Bruder Hilpert brüsk, rang sich aber dennoch
zu einer kurzen Schilderung der Visite im Hause Wernitzer durch und schloss mit
den Worten: »Wie Ihr seht, Vater, sind wir keinen Schritt weitergekommen.«
»Nur nicht verzagen, mein Sohn!«, antwortete
der Subprior. »Und was werdet ihr zwei jetzt tun?«
»Weitermachen, was sonst!«, versetzte Berengar
und sah seinen Freund eindringlich an. »Aufgeben kommt ja wohl nicht infrage.«
Bruder Hilpert pflichtete ihm bei. »Keine Bange«,
versicherte er. »Es gibt noch eine Menge zu tun. Insbesondere für dich, alter Freund.«
»Für mich?«
»Ein Auftrag der besonderen Art. Wie geschaffen
für jemanden, der die Freuden des Lebens zu schätzen weiß.« Bruder Hilpert schmunzelte.
»Mit Betonung auf ›Freuden‹, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Auf gut Deutsch gesagt: Ich soll mich zur Frauenwirtin
begeben und Erkundigungen über Tuchscherer einziehen.« Berengar hob den Zeigefinger
und wedelte damit vor Bruder Hilperts Gesicht herum. »Sag mal, schämst du dich eigentlich
nicht, einen Gesetzeshüter derart in Versuchung zu bringen?«
»Bitte um Vergebung, Herr Vogt«, erwiderte Bruder
Hilpert mit bierernster Miene, heilfroh, dass Berengar sein Ansinnen guthieß und
ihm die Frotzeleien nicht ankreidete. »Aber es gibt nun einmal keine Alternative.«
»Und du, Bücherwurm? Was ist mit dir?«
»Meine Wenigkeit wird Mittel und Wege finden
müssen, um ins Stadtgefängnis zu gelangen. Inkognito, wie ich wohl nicht eigens
betonen muss.«
»Ins Stadtgefängnis?«, protestierte Bruder Alban,
abwechselnd bleich und rot im Gesicht. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst, oder?«
»Doch, Vater!«, bekräftigte Bruder Hilpert,
vom einen auf den anderen Moment todernst. »Wobei Euch, Bruder Alban, die Aufgabe
zufallen wird, mir den dringend erforderlichen Beistand zu gewähren.«
»Beistand? Und warum gerade ich?«
»Das erkläre ich Euch später.« Durch ein Knarren
zu seiner Rechten aufgeschreckt, ließ Bruder Hilpert seinen Blick zum Erdgeschoss
des Nachbarhauses wandern, wo er den Ursprung des Geräusches vermutete. Die Fensterläden
waren jedoch fest verschlossen, und, soweit erkennbar, sämtliche Lichter gelöscht.
»Doch zuvor, Vater«, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort und trat so nahe wie möglich
an Bruder Alban heran, »bleibt mir nichts anderes übrig, als Euch ein paar Fragen
zu stellen.«
Der Lektor gab ein widerstrebendes Nicken von
sich und schwieg.
»Den Vorfall betreffend, über den Euch der Totengräber
so prompt informiert zu haben scheint.«
»Wenn’s denn sein muss
– bitte.«
»Es muss!«, beharrte Bruder
Hilpert und wechselte einen raschen Blick mit Berengar, der den Wortwechsel mit
wachsendem Interesse verfolgte. »Aber keine Angst, ich mache es kurz. Also: Für
wen war eigentlich das Grab bestimmt, welches in der vergangenen Nacht geschändet
worden ist?«
»Für eine Selbstmörderin,
nicht wert, dass man sich mit ihr …«
»Alter?«
»14 Jahre. Tochter eines Färbers, soweit ich
weiß.«
»Ihr Name?«
»Egerter, Agnes Egerter. Ehrlich gesagt, weiß
ich nicht, wozu das alles …«
»Um herauszufinden, ob es eine Verbindung zwischen
den beiden Fällen gibt, Vater.«
»… gut sein soll, mein Sohn! Eine Verbindung,
sagst du? Welche denn?«
»Wie gesagt: Genau das gilt es herauszufinden,
Bruder!«, erwiderte der Bibliothekarius seinem väterlichen Freund in der Absicht,
ihm weitere Fragen zu stellen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.
Nur wenige Schritte vom Domizil der Familie
Wernitzer entfernt, wurde Bruder Hilpert Zeuge eines Schauspiels, welches weder
er, der durch nichts zu erschütternde Inquisitor, noch sein Alter Ego und Gefährte
Berengar je erlebt hatten. Und, so stand zu erwarten, in nächster Zeit auch nicht
erleben würden.
Sprachlos vor Verwunderung, die binnen Kurzem
in Entsetzen umschlug, wanderte Bruder Hilperts Blick zur Pforte des Wernitzer’schen
Anwesens, auf der immer noch das Wort ›Cupiditas‹ zu erkennen war. Fast gleichzeitig
öffnete sich
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