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Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall

Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall

Titel: Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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flüsterte ihm eine
Stimme zu, ganz unverkennbar diejenige seines Schutzengels, das einzige Wesen, zu
dem er jemals Vertrauen gefasst hatte. ›Greif zu, oder willst du, dass die Gerechtigkeit
mit Füßen getreten wird?‹ »Nein!«, schrie Deodatus, während ihm der Wind durch die
verfilzten Haare fuhr, seinen Mantel blähte und ihm Zweige, Blattwerk und Schneereste
ins Gesicht wehte. »Und abermals nein!«
    Doch plötzlich, inmitten der Finsternis, welche
den Kirchhof von Sankt Jakobus umhüllte, vernahm der Müllkärrner eine zweite Stimme,
nicht weniger vertraut als die erste. ›Hic signum deo datus est!‹, zischte sie,
und ihm war, als stünde Luzifer neben ihm und träufle das Gift des Zwiespalts in
sein Ohr. »Fahr zur Hölle, Ketzer, wo du schmoren sollst, bis dass der Tag des Gerichts
anbricht!«
    Die Pranken, für die keine
Last zu schwer schien, nur wenige Zoll von Egberta Tuchscherers Tochter entfernt,
rang Deodatus nach Luft. Grauen überkam ihn, nacktes, die Sinne durcheinanderwirbelndes
Grauen. Täuschte er sich, oder blähte sich das Tuch, mit dem der Leichnam verhüllt
war, plötzlich auf? Begann die Kleine zu atmen, war sie am Ende gar nicht tot? Das
Herz des Müllkärrners pochte wie wild, und sein Atem hörte sich wie das Zischen
eines Blasebalgs an. Nie zuvor hatte er solche Angst gehabt, nicht einmal, als er
gebrandmarkt worden war. Angst vor dem Henker, vor den Torturen, die seiner harrten,
vor dem Fegefeuer und vor den Qualen, mit denen er für das, was er gerade tat, bezahlen
würde.
    Kurz davor, in Panik zu
geraten, bäumte sich Deodatus mit Macht dagegen auf. Ein qualvolles Stöhnen entrang
sich seiner Brust, und er sank ermattet auf die Knie. Alles, nur nicht wieder diese
Stimme!, hämmerte es durch sein gepeinigtes Gehirn, während er die Hände verschränkte
und einen flehentlichen Blick zum Himmel warf. Natürlich war dies pure Blasphemie,
aber er wusste sich nicht anders zu helfen. Im Grunde wusste er nur eins. Irgendetwas
in ihm sträubte sich, dieses Bündel vom Boden aufzuheben, von hier wegzutragen und
es auf seinen Karren zu betten. Da konnte er sich abmühen, wie er wollte.
    »Na, Deodatus – schon fertig?«
    Also doch. Wie befürchtet. Die Stimme war wieder
da. Nicht ganz so furchteinflößend wie vorhin, aber so harsch, dass er instinktiv
den Kopf einzog. »B… b… beinahe!«, stammelte der Müllkärrner und horchte verstört
auf. Kein Zweifel, dies war keine von den Stimmen, die nur in seiner Fantasie existierten.
Dies war kein Traumgesicht, keine Vision oder was auch immer. Dies war ein Mensch
aus Fleisch und Blut.
    Ein Mensch, der ihm vertraut war wie kaum ein
anderer.
    »Warum zögerst du? Ist etwas nicht Ordnung?«
    Wie vom Donner gerührt, wirbelte Deodatus herum.
»Doch, doch!«, beeilte er sich zu versichern und nickte gleich mehrfach mit dem
Kopf. »Alles im Lot, könnte nicht besser gehen!«
    »Hast du getan, worum ich dich gebeten hatte?«
    Deodatus erschauderte, drauf und dran, seine
Skrupel in Worte zu kleiden. Ein Blick auf die Person, welche sich unter dem Kapuzenmantel
verbarg, und ihn verließ jedoch der Mut. »Freilich!«, versicherte Deodatus, einen
faustdicken Kloß im Hals. »Wie befohlen!«
    »Die kleine Agnes?«
    »Aus ihrem Versteck geborgen.«
    »Egberta?«
    »Den Franziskanern abgeluchst.«
    »Deren Tochter?«
    »Dem Erdboden entrissen!«, knirschte Deodatus
und vergewisserte sich, ob sich der Leichnam an Ort und Stelle befand. Und schob
hinterher: »Nicht ganz so einfach, wie ich geglaubt …«
    »Vertraust du mir nun, oder nicht?«, unterbrach
ihn die Gestalt, in einem Tonfall, wie er es von ihr nicht gewohnt gewesen war.
»Wenn ja, dann erhebe dich und tue, was getan werden muss.«
    Zitternd vor Furcht und Kälte, drehte sich der
Müllkärrner um, riss das Bündel an sich und rappelte sich schwer atmend auf. »Euer
Wille geschehe!«, versicherte er, begleitet vom Heulen des Windes, gegen den er
vergeblich anzuschreien versuchte. »Jetzt und immerdar.«
    Doch da war der Engel der Rache längst wieder
verschwunden.

13
     
    Badehaus im Pfäffleinsgässchen, Ende der dritten Nachtstunde │ [20.00 h]
     
    Der Wunden waren gar viele, zahlreich wie Sand am Meer. So zahlreich,
dass er nicht wusste, wie viele ihm im Verlauf seiner Ehe zugefügt worden waren.
Gewiss, an Warnungen hatte kein Mangel geherrscht, sei es durch Freunde und Verwandte,
sei es durch seine Tochter Melusine. Blind vor Liebe, hatte er sie jedoch allesamt
in den Wind geschlagen und

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