Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
so schlimm daran, wenn man der
eigenen Tochter zur Seite steht? Könnt Ihr mir das erklären, Bruder?«
Bruder Hilperts Lächeln erlosch. »Gehe ich recht
in der Annahme, dass Eure Tochter noch am Leben wäre, wenn Ihr mit Argusaugen über
sie gewacht hättet?«
»Nicht richtig aufgepasst? Ich? Also … also
das ist ja wohl die …«
»Was mein Gefährte damit sagen will, ist, dass
Ihr nicht so fürsorglich zu sein scheint, wie Ihr tut«, warf Berengar mit unüberhörbarer
Häme ein und konnte sich ein Augenzwinkern in Richtung seines Freundes nicht verkneifen.
»Zumindest, was das Wohl Eurer Tochter betrifft.«
»Wollt Ihr damit andeuten, ich sei schuld an
Egbertas Tod?«
»Das habt Ihr gesagt, nicht ich!«, beeilte sich
Bruder Hilpert hinzuzufügen, wandte den Blick von seiner Gesprächspartnerin ab und
richtete ihn auf ein handtellergroßes Porträt, welches unmittelbar neben dem Fenster
hing. Es handelte sich um das Bildnis einer Frau, von ungelenker Hand gemalt und
mit den Werken italienischer Künstler vom Schlage eines Giotto [60] nicht einmal ansatzweise
zu vergleichen. »Eure Tochter?«
»Die Verstorbene, Bruder.«
»Schon einmal etwas vom ewigen Leben gehört?«,
konterte der Bibliothekarius in sarkastischem Ton und nahm das Porträt von der Wand,
um es einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Notgedrungen fiel diese recht
oberflächlich aus, zum einen, weil es mit den Fähigkeiten des Künstlers nicht weit
her zu sein schien, zum anderen, weil das Porträt kaum individuelle Züge aufwies.
Eines, so glaubte er, war wenigstens zu erkennen: Egberta war alles andere als hübsch,
nicht gerade schlank und obendrein pausbäckig gewesen. Insofern traf die Beschreibung,
die Bruder Alban von ihr gegeben hatte, ins Schwarze. »Oder seid Ihr Euch dessen
nicht gewiss?«
»So gewiss wie der Auferstehung, Bruder«, versetzte
die Endfünfzigerin und schickte ihrer Bemerkung ein schiefes Lächeln hinterher.
»Amen!«, vollendete Berengar todernst und handelte
sich prompt einen tadelnden Blick seines Freundes ein. »Apropos ›Gewissheit‹ – Ihr
könnt also beschwören, dass Ihr, Chlotilde Wernitzer, und die Tatverdächtige die
einzigen Personen wart, mit denen Eure Tochter vor ihrem unglückseligen Ende in
Berührung gekommen ist?«
»In der Tat.«
»Dann wäre die Sache ja geklärt!«, resümierte
Bruder Hilpert, nach außen hin die Ernsthaftigkeit in Person. »Oder was meinst du,
Berengar?«
»Ich meine, wir sollten uns zurückziehen und
der Dame des Hauses Gelegenheit zum Nachdenken geben.«
»Gute Idee!«, versetzte Bruder Hilpert, deutete
eine Verbeugung an und begab sich zur Tür. Dort angelangt, drehte er sich nochmals
um. »Auf bald, edle Frau – ich bin sicher, wir sehen uns bald wieder.«
*
Wieder im Freien, wetterte Berengar, was das
Zeug hielt. »Lügen, Lügen, nichts als Lügen!«, polterte er, ließ die Tür hinter
sich ins Schloss fallen und nahm sich vor, beim nächsten Verhör nicht so zimperlich
zu sein. »Da kommt dieser Kustos daher und lügt das Blaue vom Himmel herunter. Und
die alte Jungfer da droben stellt ihn noch in den Schatten. Was mich betrifft, wäre
mein Bedarf gedeckt!«
»Nicht gar so laut, alter Freund.« Den Zeigefinger
auf den Lippen, machte Bruder Hilpert kehrt und ließ den Blick über die Patrizierhäuser
schweifen, welche die vor ihm liegende Straßenseite säumten. »Gut möglich, dass
die Wände Ohren haben.«
»Und wenn schon!«, grummelte Berengar und trat
näher an seinen Gefährten heran. »Glaub mir, mit Worten allein können wir bei diesem
Schandweib nichts ausrichten. Weißt du, was ich denke? Im Grunde kann einem Tuchscherer
leidtun. Bei diesem Schwiegermonstrum und seinem Pummelchen von Tochter hatte er
bestimmt nichts zu lachen.«
»Mag sein. Das rechtfertigt aber nicht, dass
er seiner Frau untreu geworden ist.«
»Und was, wenn es sich nur um Gerüchte handelt?
Um böswilliges Geschwätz, und nicht mehr? Du weißt doch, wie die Leute sind.«
»Merkwürdig, aber Bruder Alban hat mir vorhin
genau das Gleiche gesagt.«
»Tja, wie heißt es doch so schön –«, erwiderte
Berengar, während sein Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite wanderte, von
wo aus der Lektor zu ihm herüberwinkte und sich trotz knöcheltiefem Morast nicht
scheute, die Herrngasse zu überqueren. »Wenn man vom Teu… äh … wenn man um Beistand
bittet, wird er einem zuteil! Und zwar schneller, als man denkt.«
»Kommt drauf an, was du unter Beistand …
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