Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
Gehör. Auf einen Schlag war die Alte wie verändert, und es schien,
als zähle ihr Gegenüber nicht mehr. Die Hände an den Hüften, verharrte sie auf der
Stelle und wog das gramzerfurchte Haupt.
»… und sei unverzagt! Hörst du, Mutter? Bald
bist du frei – frei!«
Irmtrud ließ sich nicht beirren, so tief in
Gedanken, dass sie weder Augen noch Ohren für ihre Umgebung besaß. Da war etwas
an dieser Stimme, das ihr bekannt, ja geradezu vertraut vorkam. Etwas, das vom Dickicht
ihrer Erinnerungen überwuchert, jedoch nicht zur Gänze ausgetilgt worden war. Eine
Reminiszenz, die durch ihr Gegenüber zum Klingen gebracht wurde. Gerade so, als
sei sie 20 Jahre jünger geworden.
»Hörst du, Mutter? Ich bin es, …!«
Und siehe, urplötzlich, und sei es auch nur
für einen flüchtigen Moment, war die Erinnerung wieder da und Irmtrud nicht mehr
das alte Kräuterweib, vor dem die Kinder in der Stadt Reißaus nahmen. Plötzlich
war sie mehr als zwei Jahrzehnte jünger, Mitte 30 und längst nicht so alt und gebrechlich
wie am heutigen Tag. Und siehe, sie schloss ein kleines Kind in die Arme, dessen
Mutter soeben zu Gott berufen worden war. Ein Kind, für das sie von nun an sorgen
würde. Den Quell immerwährender Freude, mehr wert als alles Gold und sämtliche Reichtümer
dieser Welt.
Ein Kind, das sie dereinst mit ›Mutter‹ anreden
würde.
Jauchzend vor Glück, fiel die alte Irmtrud der
schwarz gewandeten Gestalt in die Arme, drückte und herzte, küsste und liebkoste
sie. Und wollte vom Tod, den sie mehr denn je herbeigesehnt hatte, nichts mehr wissen.
»Du kommst zur rechten Zeit!«, sprach die vermeintliche Giftmischerin, als sie sich
aus der Umarmung ihres Ziehkindes gelöst hatte. »Und was wirst du jetzt tun?«
»All diejenigen, welche dir das angetan haben,
zur Rechenschaft ziehen!«, sprach der Engel der Rache, strich der Alten über die
Wange und wandte sich zum Gehen. »Das schwöre ich dir, Mutter! Bei allem, was mir
heilig ist!«
12
Vor der Kirchhofsmauer von Sankt Jakob, zwei Stunden nach Sonnenuntergang │ [19.23 h]
Genug der Plackerei!, sagte sich Deodatus, wischte den Schmutz von
den Pranken und atmete erleichtert auf. Als Müllkärrner war er einiges gewohnt,
und was den Umgang mit Tierkadavern betraf, konnte ihn nichts erschüttern. Mit der
Exhumierung eines Toten, noch dazu der eines Säuglings, verhielt es sich jedoch
anders. Vor allem, wenn er nicht einmal die Nottaufe empfangen hatte, sondern nur
in Linnen gehüllt und so rasch wie möglich verscharrt worden war. So etwas war die
reine Hölle, und er hätte alles getan, damit der Kelch an ihm vorübergegangen wäre.
Das war er jedoch nicht, und er fragte sich, ob der Frevel, den er begangen hatte,
je wieder gutzumachen sein würde.
Gefrevelt hatte er in den vergangenen Stunden
genug. So viel, dass ihm der Galgen sicher war. Aber nur, wenn er Glück hatte. Käme
das, was er auf dem Kerbholz hatte, heraus, würde man ihn aufs Rad flechten, das
Wenige, was an seinem Körper noch heil war, zu Brei schlagen, ihn anschließend vierteilen
und seinen Kadaver den Schweinen zum Fraß vorwerfen. Auf Grabschändung stand der
Tod, und er wusste nur zu gut, dass seine Peiniger sämtliche Register ziehen würden,
um ihn so qualvoll wie möglich zu gestalten. Das Gleiche galt für den Diebstahl
von Leichen, umso mehr, wenn es sich um eine Dame aus vornehmem Hause handelte.
Über seine dritte Untat, das Einschmuggeln einer Toten, die auf dem Schindanger
verscharrt worden war, wollte er gar nicht erst nachdenken. Auch so war alles schon
schlimm genug.
Sichtlich gezeichnet, wischte sich Deodatus
den Schweiß von der Stirn. Aller schlechten Dinge waren es somit drei, zumindest,
was das zu erwartende Strafmaß betraf. In Bezug auf die Ziele, welche sein Schutzengel
mit dem Leichendiebstahl verfolgte, lagen die Dinge freilich anders. Diente sein
Frevel doch einem einzigen, alles andere als verbrecherischen Zweck. Nämlich dazu,
den Tod von drei Menschen zu rächen. Und den Schurken, der sie auf dem Gewissen
hatte, der gerechten Strafe zuzuführen.
So wahr ihm sein Schutzengel helfe.
Genug der Gewissensbisse!, ermahnte sich Deodatus
aufs Neue, schulterte die Umhängetasche, in der sich sein Handwerkszeug befand,
und beugte sich nieder, um die Frucht seiner Bemühungen in den Armen zu bergen.
Gänzlich unerwartet hielt er jedoch mitten in der Bewegung inne, nur noch wenige
Zoll von dem winzigen Bündel entfernt. ›Greif zu, Deodatus!‹,
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