Engel der Verdammten (German Edition)
Minuten sein Motorrad gewesen war.
Dann sah er es. Ein kleiner Zettel steckte zwischen dem abgerissenen Auspuff und dem zerstochenen Reifen.
Ich hole mir auch heute Nacht, was mir zusteht. Du kannst es nicht verhindern! Es ist noch lange nicht zu Ende. Es gibt noch so viele, die nach Erlösung rufen.
Peter von Borgo starrte auf den Zettel hinab. Er fluchte innerlich. Wer sollte heute Nacht das Opfer sein?
Ein Bild stieg vor ihm auf. Zwei dunkle Augen voller Trauer und Schmerz sahen ihn an. Sollte sie heute Nacht in ihrem Blut sterben?
Dieses Mal würde er nicht zu spät kommen! Das schwor er sich.
Der Vampir raste durch die Nacht. Es drängte ihn, sich zum Wolf zu wandeln und auf flinken Pfoten durch Hamburg zu eilen, doch hier in den eng bebauten Straßen war das nicht ratsam. Selbst in seiner menschlichen Gestalt war er so schnell, dass die Passanten, denen er begegnete, ihn kaum wahrnahmen. Er war nur ein Schatten, der am Rand ihrer Wahrnehmung vorbeihuschte.
Der Vampir erreichte Altona. Er lief hinunter bis an die Elbe. Als seine Füße den Sand berührten, begann er sich zu wandeln. Flinke Pfoten flogen über den Strand. Ein Heulen erhob sich in die Nachtluft. Die Häuser von Ottensen und Othmarschen huschten an ihm vorbei. Erst als er Nienstedten erreichte, wurde er langsamer. Unter den tief hängenden Zweigen eines ausladenden Baumes, dessen Blätter bereits in herbstlichem Gelb leuchteten, wandelte er sich zurück. Er huschte über die Straße und schlüpfte in den Garten, an dessen Tor so unangebracht passend der Name »Wolf« prangte.
Peter von Borgo durchquerte den Garten und schlüpfte unter dem Spalt der Tür ins Haus. Er versuchte, die Witterung aus Verlangen und Wut zu finden, doch da war nichts. Und er konnte auch kein Blut riechen. Gut so. Es war noch nicht zu spät.
Als der Nebel sich wieder zu seiner Gestalt verfestigte, hielt er für einen Moment inne und nahm Witterung auf. Wo war sie? Er konzentrierte sich auf die verschiedenen menschlichen Gerüche, die sich in einem bunten Reigen mischten. Er konnte die Hauseigentümer und ihre beiden Kinder ganz deutlich riechen. Herr und Frau Wolf. Sie benutzte ein grauenhaftes Parfüm. Hatte ihr das noch niemand gesagt? Aber auch sein Rasierwasser und sein billiges Deodorant ließen ihn angewidert die Nase kraus ziehen. Sie waren mit den Kindern ausgegangen. Ja, er war sich sicher, sie hielten sich im Augenblick nicht im Haus auf. Dann gab es noch den Geruch diverser Gäste, die vermutlich am Vorabend zu Besuch gewesen waren. Und dazwischen den einfachen, natürlichen Geruch der Frau, die er suchte: Duyen. Sie musste ganz in der Nähe sein. Sie roch ein wenig nach der Seife, mit der sie sich heute Morgen gewaschen hatte, und nach dem noch warmen Schweiß der Hausarbeit. Doch am stärksten nahm er den frischen, blumigen Geruch wahr, der ihrer Haut entströmte.
Beschwingt machte er sich auf die Suche nach ihr. Er folgte ihrem Duft die Treppe hinunter in den Keller. Dort stand sie in der Waschküche. Während neben ihr eine Maschine mit weißen Badetüchern rumpelte, stand sie an einem Klappbrett und bügelte einen Kissenbezug mit Rosenmuster.
Stumm blieb Peter von Borgo in der Tür stehen und beobachtete sie, bis sie behutsam das Bügeleisen absetzte und sich umdrehte. Sie musste seinen Blick gespürt haben. Nun sah sie ihn ohne Erschrecken an. Falls sie sich wunderte, dass er einfach so hier im Keller auftauchte, während Herr und Herrin außer Haus waren, zeigte sie es nicht.
»Sie sind es wieder«, sagte sie nur. »Haben Sie meine Tochter gesehen?«
Der Vampir schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich weiß, dass sie bei guten Menschen in Sicherheit ist.«
Duyen nickte. »Das ist gut. Es hilft mir jeden Tag, wissen Sie? Die Arbeit ist nicht schlimm. Ich habe immer schwer gearbeitet, aber … « Sie brach ab, seufzte und nahm sich das nächste Wäschestück aus dem Korb.
»Aber was?«
»Die Einsamkeit«, sagte Duyen. »Daheim hatte ich die Familie und die Kinder. Und Nachbarn, die sich gegenseitig geholfen haben, auch wenn sie selbst nichts mehr hatten. Wir haben gelacht und gesungen, selbst wenn der Hunger uns quälte. Aber hier ist alles still und einsam wie der Tod. Hier singt niemand.«
Sie drehte das Wäschestück um und hob dann mit einem verschmitzten Lächeln den Blick. »Nur ich singe manchmal hier unten ganz leise, wenn mich niemand hören kann.« Ihr Blick verdüsterte sich wieder. »Aber das ist nicht dasselbe. Es sind traurige
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