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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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einflussreiche Christen verlauten, dass alle Juden die Stadt verlassen sollten, da die Stadtväter vielleicht nicht mehr in der Lage wären, sie vor dem Pöbel zu schützen.
    Die letzte Nacht steht noch immer flammend vor meinen Augen. Samuel war als Einziger im Haus zurückgeblieben. Seine Töchter hatte man erfolgreich aus Straßburg heraus und in Sicherheit gebracht. Er und ich saßen im Hauptraum des Hauses - ein sehr reiches Haus, möchte ich betonen -, und er machte mir klar, dass, was immer ich auch sagen oder tun würde, er vor dem Grimm des aufgebrachten Pöbels nicht fliehen werde.
    Viele arme Juden konnten dem Kommenden nicht entfliehen.
    Und Samuel war, sehr zu meiner Verwunderung, zu dem Schluss gekommen, dass jemand aus seinem Stamm ihn in dieser Situation brauchen könnte und er deshalb bleiben müs-se. Er hatte bisher nicht sehr viel von Aufopferung gehalten, doch jetzt hatte er beschlossen zu bleiben.
    Ich war wie irre, schlug krachend mit den Fäusten auf den Tisch, rannte aus dem Zimmer und wieder zurück, nur um ihm zu sagen, dass man inzwischen die gesamte Nachbarschaft umzingelt habe, dass die Bewohner dieses Stadtteils jeden Moment in einem Feuersturm umkommen könnten.
    Ich kannte den Lauf der Geschichte genauso gut wie Samuel; der Charakter dieses Mannes war mir damals so lebhaft bewusst wie heute. Ich hatte ihm Gold im Überfluss beschafft; ich hatte für ihn Geschäftspartner ausspioniert, ich war die Quelle seines immensen und stetig wachsenden Reichtums. Getötet hatte ich allerdings nie für ihn, denn etwas so Plumpes wäre ihm nicht in den Sinn gekommen; er war ein jüdischer Kaufmann, ein jüdischer Bankier, er war geschäftstüchtig, aber beliebt und respektiert von der christlichen Einwohnerschaft wegen seiner guten Zinsen und wegen seiner vernünftigen Haltung, wenn es um die Zahlung von Schulden ging. Ein gü-
    tiger Mensch? Ja, aber auch ein sehr weltlich gesinnter Mensch, wenn auch ein wenig mystisch angehaucht; und nun saß er in diesem Zimmer, während der Pöbel und die Flammen näher und näher rückten und sich die Stadt Straßburg in eine Hölle verwandelte, und er weigerte sich sanft, aber hart-näckig fortzugehen.
    ›Es gibt immer noch Wege, aus der Stadt herauszukommen, ich kann dich mit mir nehmen‹, sagte ich zu ihm. Tatsächlich kannten wir beide die Gänge unter den Häusern des jüdischen Viertels, die außerhalb der Stadtmauer endeten. Sicher, sie waren alt, aber wir kannten sie. Ich hätte ihn auf diesem Wege fortbringen können. Oder ich hätte mich mit ihm aufwärts in die Lüfte schwingen können, unsichtbar.
    ›Meister, was willst du tun? Willst du dich von ihnen töten lassen? Dich von ihnen in Stücke reißen lassen? Entweder wirst du im Feuer enden, das von beiden Enden der Straße heran-braust, oder der Pöbel wird dich töten, nicht ohne dir die Ringe von den Fingern und die Kleidung vom Leib gerissen zu haben. Herr, warum wählst du den Tod?‹
    Er hatte mir schon dutzende Male gesagt, dass ich still sein und mich in die Gebeine zurückziehen solle. Doch ich gehorchte einfach nicht. Schließlich sagte ich: ›Ich werde nicht zulassen, dass sie dir das antun. Ich werde dich mit mir fortnehmen, mitsamt den Gebeinen!‹
    ›Asrael‹, rief er. ›Es ist noch Zeit, und du bist jetzt ruhig!‹ Er legte die letzten seiner Bücher ordentlich zur Seite, eine Ausgabe seines geliebten Talmud und die Kabbala, aus der er manchen seiner Zauber geschöpft hatte, und dann saß er und wartete, die Augen auf die Tür geheftet.
    ›Herr‹, fragte ich. Und daran kann ich mich genauestens erinnern. ›Herr, was ist mit mir? Was wird geschehen? Wird man die Gebeine ohne die Truhe finden? Wohin gehe ich, Herr?‹
    Mit Sicherheit hatte ich eine so selbstsüchtige Frage noch nie gestellt, denn sein Gesicht nahm den Ausdruck höchsten Erstaunens an. Er hielt in seinen Betrachtungen inne, nahm den Blick von der Tür und sah mich an.
    ›Herr, wenn du stirbst, kannst du meinen Geist nicht mit dir nehmen?‹, fragte ich. ›Kannst du deinen ergebenen Diener nicht mit dir ins Licht nehmen?‹
    ›Ach, Asrael‹, sagte er verzweifelt, ›wie kommst du nur auf solche Ideen, du dummer, dummer Geist. Was denkst du denn, was du bist?‹
    Der Klang seiner Stimme machte mich wütend. Sein Gesichtsausdruck machte mich wütend.
    ›Herr, du überlässt mich der Asche! Den Aasgeiern!‹, rief ich aus. ›Warum kannst du nicht meine Hand ergreifen, wenn sie dich töten, wenn du denn schon

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