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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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auffangen, mit denen er mich zurückstieß und die Augen abwandte. So deutlich, als habe er laut gesprochen, hörte ich es: ›Nein, Geist, denn wenn ich im Sterben deine Hand halte, werde ich mit dir hinabgezogen werden in die Hölle.‹

    Ich verfluchte ihn.
    Gnade und Güte reichen also nicht aus für uns beide, Herr?
    Herr! Gebieter! Lehrmeister! Rabbi!
    Die Flammen umhüllten die Menge. Durch Feuer und Rauch erhob ich mich über dies alles in die Lüfte, spürte, wie die Käl-te der Nacht mich durchdrang, und hastete dem sicheren Hort meiner Gebeine entgegen. Ich floh vor Rauch und Grauen und Ungerechtigkeit und vor den Schreien Unschuldiger. Mit ausgebreiteten Armen flog ich durch dunkle Wälder wie eine He-xe, die dem Sabbat entgegeneilt, bis ich die beiden Christen an der Pforte einer kleinen Kirche stehen sah, weit von der Stadt entfernt. Die Truhe stand zwischen ihnen auf dem Boden, und nur noch von dem Wunsch nach Tod und Schweigen getrieben, ließ ich mich ermattet in die Gebeine sinken.
    Aus den Worten der beiden Männer entnahm ich nicht mehr, als dass sie um Straßburg, um die Juden trauerten, dass sie weinten wegen Samuel und wegen der tiefen Tragik dieses Geschehens. Und dass sie vorhatten, mich in Ägypten zu verkaufen. Sie waren selbst keine Magier, und ich war für sie eine Beute, die einen guten Handelswert hatte.
    Ein langer, ungestörter Schlaf scheint mir nicht vergönnt gewesen zu sein. Man beschwor mich, man brachte mich zu den verschiedensten Orten, und die, die mich riefen, tötete ich.
    Einige meiner Beschwörer kann ich mir noch vorstellen, andere nicht. In die leere, unendliche Tafel meines Geistes prägte sich, Zeile um Zeile, die Geschichte der Welt. Doch mein Verstand regte sich nicht, ich schlief.
    Einmal rief mich ein in herrliche Seide gekleideter Mameluk.
    Das war in Kairo, und mit seinem eigenen Schwert hackte ich ihn in Stücke. Man musste alle weisen Männer der Stadt auf-bieten, um mich zu bannen und in meine Gebeine zurückzuja-gen. Ich kann mich noch an die großartigen Turbane erinnern und an die wahnsinnigen Schreie. Sie waren ein so auffälliger Haufen, diese islamischen Soldaten, so merkwürdige Männer, die ihr Leben ohne Frauen verbrachten und nur kämpften und töteten. Warum vernichteten sie mich nicht? Wegen der Inschrift, die sie vor einem herrenlosen Geist warnte, der nach Rache schreien könnte?

    Paris kommt mir in den Sinn - ein raffinierter, satanischer Magier in einem von Gaslicht beleuchteten Raum, dessen Tape-tenmuster mich faszinierte. Ein merkwürdiger schwarzer Überrock hing an einem Haken. Fast hätte ich das Leben verlockend finden können: Gaslicht und Maschinen, Wagen, die über gepflasterte Straßen rollten. Doch ich tötete den mysteriösen Mann und zog mich abermals in die Gebeine zurück.
    Es war nie anders. Ich schlief. Ich kann mich an einen Winter in Polen, glaube ich, erinnern, an eine Auseinandersetzung zwischen zwei Gelehrten. Doch all dies ist unklar und unvollkommen. Sie sprachen einen hebräischen Dialekt, sie hatten mich gerufen, doch sie merkten beide anscheinend nicht, dass ich gekommen war. Wir waren in einer einfachen kleinen Synagoge, und sie, beides gute, freundliche Männer, stritten sich.
    Bis sie übereinkamen, dass meine Gebeine, eingemauert in eine Wand, verborgen werden müssten. Gute Menschen. Ich schlief.

    Erst vor einigen Wochen erwachte ich wieder zum Leben, in hellem Wintersonnenschein, als dieses Trio gedungener Mörder sich durch das Gedränge der Fifth Avenue schob, um Esther Belkin zu töten. Sie stieg aus ihrer schwarzen Limousine und betrat das Kaufhaus - Esther, unschuldig, schön und ohne die leiseste Ahnung, dass der Tod auf sie lauerte.
    Und warum war ich dort? Wer hatte mich dieses Mal gerufen?
    Ich wusste nur, dass diese Schurken sie töten wollten, diese grässlichen, ungehobelten, bösartigen Männer, die mit Drogen vollgepumpt waren, die so dümmlich waren und so entzückt von dem Gedanken, sie in all ihrer Unschuld zu töten. Ich musste das verhindern. Unbedingt.
    Doch ich kam zu spät. Du weißt es aus den Zeitungen. Wer war dieses unschuldige Kind? Sie sah mich, sie nannte meinen Namen. Wie konnte sie mich kennen? Sie hatte mich nicht gerufen. Aber sie hatte mich wahrgenommen in dem hauchdünnen Bereich zwischen Leben und Tod, in dem Wahrheiten sichtbar werden, die normalerweise verhüllt sind.
    Lass mich bei diesem Tod verweilen. Ein solcher Tod verdient noch ein paar zusätzliche Worte. Vielleicht

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