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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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sie für ihn besor-gen, manchmal sogar stehlen. Er studierte diese Schriften gründlich und las sie mir nicht nur vor, sondern ich musste sie mir auch einprägen; dabei festigten all diese Texte seine Überzeugung, dass Magie vom Grundsatz her immer das Gleiche war.
    Ich empfinde es als eine Gnade, dass ich mich an diese Jahre nun endlich so kristallklar erinnern kann, denn aus der Zeit, die zwischen seinem Tod und der Gegenwart liegt, kann ich mich nur weniger Dinge deutlich entsinnen. Ich weiß, dass es nach Zurvans Tod Zeiten gab, in denen mein Gedächtnis wie ausgeleert war und ich meinem jeweiligen Meister aus reiner Langeweile diente; manchmal sah ich amüsiert zu, wie sie Verheerung über sich selbst brachten, und manchmal nahm ich sogar die Gebeine und brachte sie eigenhändig zu einem anderen Gebieter. Doch diese Zeiten sind verschwommen, im Nebel versunken. Bedeutungslos.
    Zurvan hatte Recht. Meine Art und Weise, mit Leid und schmerzhaften Erfahrungen umzugehen, war, sie aus meinem Gedächtnis zu streichen. Und Geister neigen an sich schon ziemlich häufig zum Vergessen. Das Erinnerungsvermögen der Menschen wird durch einen Körper aus Fleisch und Blut und die daraus resultierenden Bedürfnisse stimuliert. Und wenn beides nicht vorhanden ist, kann es verlockend süß sein, sich an nichts zu erinnern.
    Während seiner letzten Lebensjahre verfertigte Zurvan ein besseres Behältnis für die Gebeine; er baute aus sehr hartem Holz, das er innen und außen mit Gold überzog, eine Truhe mit einer dem Umriss der Knochen angepassten Höhlung.
    Darin lagen sie in ihrer kauernden Haltung wie ein schlafendes Kind. Schreiner hatten die entsprechenden Vorarbeiten gelei-stet, denn, um ehrlich zu sein, er fand, dass seine kleinen Geister zu ungenau arbeiteten. Er pflegte zu sagen, wer in der materiellen Welt lebt, erweist der Materie auch größeren Respekt.
    Auf die Außenseite des Schreins, der rechteckig und gerade lang genug war, um mein Skelett aufzunehmen, gravierte er ein, was ich war und wie man mich beschwören könne, und hinzu fügte er die strenge Mahnung, dass man mich nie benutzen solle, um Böses zu tun, andernfalls könne das Böse auf den Beschwörer zurückfallen. Auch warnte er davor, die Gebeine zu vernichten, da dadurch jegliche Kontrolle über mich verloren gehe.
    Das alles ritzte er in Form von Beschwörungen und weihevol-len Versen in vielen Sprachen auf die Außenseite der Truhe.
    Außerdem fügte er das hebräische Symbol für ›Leben‹ hinzu.
    Es war nur gut, dass er schon frühzeitig mit den Arbeiten begann, denn sein Tod kam schließlich sehr überraschend für mich. Er starb im Schlaf, und ich erwachte erst, als miese kleine Diebe mitsamt den Dorfbewohnern in Zurvans Haus in Sy-rakus einfielen, weil sie wussten, dass er keine Verwandtschaft hatte und sie ihn nun nicht mehr fürchten mussten. Und da er nicht dafür gesorgt hatte, dass Dämonen über seinen Leichnam wachten, plünderten jene das Haus, fanden die Truhe, redeten über die Gebeine, und das rief mich auf den Plan.
    Ich erschlug sie alle, bis hin zum kleinsten Kind, das in Zurvans Habseligkeiten wühlte. Ich tötete sie alle. Noch in dersel-ben Nacht kamen die Einwohner des Dorfes und brannten das Haus des mächtigen Magiers nieder, in der Hoffnung, es so von allem Übel befreien zu können. Das zumindest war erfreulich, da ich wusste, dass Zurvan als geborener Grieche, wenn er auch aus freiem Willen keinem Stamm oder Volk angehört hatte, seine Überreste verbrannt sehen wollte. Also hatte ich es so eingerichtet, dass sein Körper als Erstes verbrannte.
    Dann begab ich mich zurück nach Milet und schließlich weiter nach Babylon, obwohl ich nicht wusste, was mich dahin zog.
    Ich trauerte um Zurvan, dachte dauernd an ihn, und der Kummer quälte mich Tag und Nacht. Ich machte mich unsichtbar, behielt aber meinen Körper, denn ich wagte es nicht, mich in die Gebeine zurückzuziehen, aus Furcht, nicht wieder hervorkommen zu können. So schleppte ich also mein Skelett mit mir durch den Sand der Wüste.
    Als ich endlich eine babylonische Stadt erreichte, widerte sie mich an, ich hasste sie auf Anhieb, und jeder Schritt verursachte mir Qualen. Nichts dort entfachte eine Erinnerung in mir, nur ein vages Gefühl überkam mich. Also ging ich bald wieder fort und begab mich nach Athen, wo Zurvan geboren worden war. Ich machte ein kleines Haus ausfindig und baute mir tief, tief unter seinem Fundament ein sicheres Versteck für die Gebeine;

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