Engel der Verdammten
war die ganze große Stadt verschwunden.
Ich war ein Nichts, ein Nichts.
Ich bemühte mich, die Menge dort unten zu sehen, doch ich konnte nicht einmal die Stelle finden, an der die Eval-Brüder immer noch in ihrem Blut lagen oder vielleicht schon mit eben-solcher Sorgfalt fortgeschafft wurden wie vorher jene Königin mit dem dunklen Haar, die Göttin, die mich in ihrem Todeskampf gesehen hatte. Sie hatte es gesagt, und ich hatte es gehört; sie hatte gesagt: ›Asrael, der Hüter der Gebeine.‹ Ich hatte es gehört, wie Geister hören, obwohl der Helfer in dem Wagen vielleicht einen so leisen und von Tragik umwehten Hauch nicht wahrgenommen hatten.
Der Wind riss mich mit sich. In ihm hallten die Jammerschreie der Seelen, Gesichter stürzten auf mich ein, Hände versuchten mich aufzuhalten, und wie immer drehte ich ihnen den Rücken zu und beachtete sie nicht. Für einen Sekundenbruchteil sah ich die undeutlichen Umrisse meiner Hände, spürte die Form meiner Arme und Beine, spürte die Tränen auf meinem Gesicht. Ja, das spürte ich wirklich. Dann hatte ich mich aufgelöst.
Zurück in die Gebeine, Asrael. Ich war in Sicherheit.
Kannst du dir nun ein Bild machen? Ohne einen Gebieter, erwacht aus meinem Schlaf, um Zeuge dieser Tat zu sein, sie zu vergelten! Warum? Dunkelheit senkte sich über mich wie eine Droge. Sicher, geborgen, ja, aber ich wollte nicht geborgen sein; ich wollte den Mann finden, der die Eval-Brüder ausgeschickt hatte, Esther zu töten.«
15
»Die Zeit verging. Ich spürte das viel intensiver als sonst. Mir war bewusst, dass ich lauschte. Ich war ganz bei mir.
Wie immer, wenn ich erwacht war, wusste ich auch diesmal, was es mit der Welt draußen auf sich hatte. Sei nachsichtig mit mir: Sagen wir, mein Wissen war auf dem gleichen Stand wie das der Menschen draußen - derer, die ich in den Straßen von New York gesehen und berührt hatte. Einzelne Erlebnisse fügten sich zu moralischen Eindrücken, dem Zusammen-schluss aus alldem Wissen wurden nach und nach Gefühle zugeordnet. Interpretationen, Erklärungen sind für Geister nicht notwendig. Geister sind nicht erstaunt oder geschockt.
Doch der Verstand eines Geistes, nicht beschränkt durch die Fesseln des Fleisches, kann ohne Unterschied und ohne Ende die Summe dessen in sich aufnehmen, was im Kopf des Menschen neben ihm vor sich geht, seien es Allgemeinwissen oder persönliche Werte.
Ich erfasste sowohl allgemeine als auch spezielle Gegebenheiten, als ich da wieder einmal wach im Dunkel lag - dass wir uns dem Ende des 20. Jahrhunderts, dem Ende der so genannten christlichen Ära näherten, dass die Nutzung fossiler Brennstoffe und die Erzeugung von Elektrizität für so alltägliche Dinge wie Essen, Trinken, Schlafen, Kommunikation, Reisen, Bauen und Kämpfen unabdingbar waren, dass kleinste Maschinen mit feinsten Schaltungen Informationen im Überfluss speichern konnten und dass flink bewegte Bilder, die lebendige, sprechende Menschen zeigten, durch Wellen oder hauchdünne Fibern, kostbarer als gesponnenes Glas, übertragen werden konnten.
Und dann Wellen. Die Luft war voll davon. War gesättigt mit Stimmen, die private und öffentliche Gespräche führten - von Telefonen aus, über Radio und Fernsehen. Diese Wellen umgaben die Erde inzwischen genauso dicht, wie die Luft selbst sie umgab.
Und die Erde war tatsächlich rund. Und nicht ein Quadratme-ter ihrer Oberfläche war unerforscht, unbekannt oder unbe-nannt geblieben. Keinen Ort gab es mehr, mit dem man nicht hätte Verbindung aufnehmen können, da die erstaunlichen elektromagnetischen Wellen von Radio, Telefon und Fernsehen über Satelliten auf jeden Punkt gelenkt werden konnten.
Manchmal waren dies Bilder und Stimmen von Leuten und Geschehnissen, die genau in dem Moment stattfanden, in dem man sie auch übertrug; das nannte man dann Live-TV.
Die Wissenschaft von der Chemie hatte unerwartete Höhen erklommen, da man durch Auszüge aus Substanzen, durch ihre Läuterung oder Aufschlüsselung und durch neue Kombi-nationen alle möglichen Substanzen, Materialien, Gifte erschaffen hatte. Der Prozess an sich, den chemische Verbindungen durchliefen, hatte sich geändert, man konnte nun etwas durch physikalische oder chemische Eingriffe ver-
ändern, man kannte die Kettenreaktion und chemische Reaktion und die Fusion, um nur ein paar zu nennen. Materialien waren durch bestimmte chemische Prozesse in ihre Urbe-standteile zerlegt worden, und neue Materialien entstanden daraus. Der
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