Engel der Verdammten
Bürohochhäusern entfernt ragten Ausläufer eines Dschungels in die Zivilisation, dessen Bewohner nie von Jahwe, Allah, Jesus oder Shiva gehört hatten, geschweige denn von Eisen, Kupfer, Bronze oder Gold. Sie jagten mit hölzernen Speeren und dem Gift von Reptilien, nur hin und wieder aufgestört vom Anblick riesiger automatischer Bulldozer, die den Regenwald, der ihre Welt war, niederwalzten.
Eine Herde Ziegen auf den Hügeln Judäas sah heute nicht anders aus als zur Zeit des Persers Kyros, und genauso wenig hatten sich die Hirten, die draußen vor den Toren Bethlehems ihre Schafe hüteten, seit der Zeit des Propheten Jeremias ver-
ändert.
Obwohl zwischen Ost und West eine fortlaufende Kommunikation und Interaktion stattfand, versuchte doch jeder, irgendwie gegen den anderen die Oberhand zu behalten. Wüsten-scheichs, reich durch das Öl, das man unter ihren Sanddünen fand, trugen ihre traditionellen Gewänder und Kopfbedeckun-gen, während sie in großen Limousinen herumfuhren. Unzählige Frauen lebten immer noch abgeschieden innerhalb ihrer vier Wände und gingen nur verschleiert in die Öffentlichkeit.
In New York, der ungekrönten Hauptstadt der westlichen Welt und Wahlheimat der Cleveren und Mächtigen, betrachtete der gewöhnliche Bürger die Wissenschaften ebenso zuversichtlich, wie er ihnen unwissend gegenüberstand.
Wer in dieser Welt kannte schon die wirkliche Bedeutung von Worten wie Binäres Zahlensystem, Halbleiter, Trioden, Elektrolyse oder Laserstrahlen?
An der Spitze der Hierarchie beschäftigte sich eine technolo-gisch geschulte Elite, deren Macht den früheren Priestern glich, in gutem Glauben mit Dingen wie Ionen, Neutrinos, Gammastrahlen, ultraviolettem Licht und den Schwarzen Lö-
chern des Weltalls.
In mein Erwachen blitzten hell leuchtende Zeichen, glänzend wie Esthers brechende Augen.
Sie hätte ebenso gut sagen können: ›Hüter der Gebeine, komm und sieh.‹
Während ich noch schlummerte, von Kummer um sie verzehrt und von Zorn, Zorn auf ihre Mörder, wartete die ganze materielle Welt auf mich, damit ich sie sehe, erforsche, ohne Hast oder ängstliche Aufgeregtheit. In Unsichtbarkeit und Schweigen befangen, sah ich einen Mann an einer New Yorker Stra-
ßenecke parken, ein kleines Handy am Ohr, durch das er mit einem seiner Angestellten in Wien redete.
Eine andere Frau stand in Atlanta vor einer Kamera und sprach Tag und Nacht nur über das Wetter auf diesem Erdball.
Esther Belkin, für mich verloren, wurde von Tausenden betrauert, die sie nie gekannt hatten, ihre Geschichte wurde in jeden Staat übertragen, der CNN, den bekannten Kabelsen-der, empfangen konnte. Mitglieder des weltweit bekannten
›Tempels vom Geiste Gottes‹, zu dem sie selbst gar nicht ge-hört hatte, trauerten um sie. Ihr Stiefvater Gregory Belkin, ein kräftiger Mann von beträchtlicher Körpergröße, Gründer dieser Religionsgemeinschaft, weinte vor den laufenden Kameras und erwähnte Sekten, Terroristen und Verschwörungen.
›Warum wollen sie uns schaden?‹, fragte er. Seine schwarzen Augen waren klar und glänzend, das Haar trug er kurz geschnitten, doch war es dicht wie das Esthers, und seine Haut wies ein beinahe vollkommenes Goldbraun auf, wie Honig im Sonnenlicht.
Esthers Mutter floh die Öffentlichkeit. Weiß gekleidete Pflegerinnen geleiteten Mrs. Belkin vorbei an den aufdringlich rufen-den Reportern. Mit ihrer langhaarigen, unordentlichen Schulmädchenfrisur und den dünnen, flehentlich bittenden Händen wirkte sie kaum älter als ihre Tochter.
Staatsdiener und andere gewählte Amtsinhaber verdammten diese von Gewalt regierten Zeiten.
Und von Gewalt geprägt war diese Zeit wirklich. Wie jedes andere Angebot gab es auch Gewalt heutzutage in allen Aus-prägungen und im Überfluss.
Raub, Vergewaltigung und Körperverletzung waren nicht nur an der Tagesordnung, sondern uferten unter dem Deckmantel von Zivilisation und Frieden aus. Kleine, wohl organisierte Kriege gab es ständig. Bis aufs Blut bekämpften sich die Völker in Somalia, in Afghanistan, in der Ukraine. Die Seelen der gerade Verstorbenen schwebten wie ein Ring aus Dunst um die Erde.
Es gab einen Markt für Waffen, schwarz, weiß, chaotisch, nicht zu stoppen. Kaum lebensfähige Kleinstaaten wetteiferten mit größeren, mächtigeren Nationen darum, legal oder illegal Waffen und Explosivstoffe von zusammenbrechenden Groß-
mächten zu erwerben. Die mächtigen Nationen versuchten dieser wie ein Krebsgeschwür um sich
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