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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Prozess schien ohne Grenzen zu sein.
    Die Träume der Alchimisten waren von der Wissenschaft übertroffen worden.
    Diamanten wurden in die Spitzen von Bohrern eingesetzt, und dennoch trug man sie immer noch als Schmuck, und man jon-glierte mit Millionenwerten an Dollars - offensichtlich eine bevorzugte Währung, diese amerikanischen Dollars, obwohl die Welt von Währungen und Sprachen überquoll und jemand in Hongkong auf Knopfdruck mit jemandem in New York sprechen konnte. Die Liste synthetischer Materialien und daraus folgender Produkte war derart angewachsen, dass der Mann auf der Straße sie sich weder merken noch sie alle verstehen konnte; und welcher Mann konnte schon die Zusammenset-zung des Nylonhemdes auf seinem Körper erklären oder gar die Funktion des Taschenrechners, den er bei sich trug.
    Natürlich blieben - selbst für mich - ein paar Schlussfolgerungen nicht aus. Ein Auto oder ein Flugzeug, das nach dem Prinzip der Vergasung fossilen Brennstoffs arbeitet, kann ex-plodieren, anstatt sich vorwärts zu bewegen. Bomben können ohne Piloten von einem Land in ein anderes geschickt werden, um selbst die größten Städte oder die höchsten Gebäude zu zerstören. Es gab kaum ein Meer der Welt, dessen Wasser nicht ein wenig nach Benzin schmeckte.
    New York lag unbestritten sehr weit nördlich vom Äquator, und man könnte sagen, es war in dieser Zeit die Hauptstadt der westlichen Welt.
    Die westliche Welt. Hier also fand ich mich wieder. Und was war das, die westliche Welt? Offensichtlich das unmittelbare kulturelle Erbe der hellenistischen Welt Alexanders des Gro-
    ßen, ihrer Vorstellung von Gerechtigkeit und Keuschheit, zwar unermesslich erweitert und kompliziert, aber niemals wirklich vom Christentum, in welcher Form es auch immer auftrat, umgestoßen - von der unumschränkten mystischen Bejahung Jesu bis hin zu den zutiefst verknöcherten theologischen Sekten, die noch immer über die Art der Dreieinigkeit streiten, was heißt, ob Gott nun aus einer oder drei Personen besteht oder nicht. Kaum ein Teil der westlichen Welt, der nicht durch den ungeheuer kreativen und erbarmungslos spirituellen Ju-daismus bereichert worden wäre. Jüdische Wissenschaftler, Philosophen, Ärzte, Kaufleute und Musiker gehören zu den berühmtesten Menschen dieses Zeitalters.
    Der Drang, sich auszuzeichnen, unübertroffen zu sein, war eine Selbstverständlichkeit, wie damals in Babylon. Das galt selbst für die Verzweifelten.
    Die Gesetze der Natur wie die von der Vernunft diktierten Gesetze waren allgemein anerkannte Werte geworden, wohingegen man Vorschriften und Gesetze, die angeblich offenbart worden waren, ebenso wie die, die überliefert worden waren, kritisch betrachtete und heftig darüber diskutierte. Und alle Menschen waren nun ›gleich‹, das heißt, dass das Leben eines Feldarbeiters ebenso kostbar war wie das Leben der Kö-
    nigin von England oder ihres Premierministers.
    Genau genommen, aus gesetzlicher Sicht, gab es keine Sklaven.
    Nur wenige Menschen hatten eine feste Vorstellung vom Sinn des Lebens, genauso wenige wie schon in jenen Zeiten, als ich lebendig war.

    Vor Zeiten schon, als ich, ein sterblicher Jüngling, im Skriptorium arbeitete, hatte ich die Wehklage gelesen: ›Wer hat je gewusst, was der Wille des Himmels ist?‹ Jede Frau, jeder Mann in den Straßen New Yorks hätte heute die gleichen Worte sprechen können.
    Diese westliche Welt, dieses Vermächtnis des Hellenismus, versehen mit einer kleinen Infusion von Juden- und Christentum, war in dem nördlichen Klima dieses Planeten, das sowohl in Europa als auch in Amerika herrschte, dramatisch aufge-blüht. Ihr waren die Zähigkeit und Wildheit jener höher gewachsenen, robusteren und häufig hellhäutigeren Bewohner der Wälder und Steppen zugute gekommen, die das Leben nicht in einem irdischen Garten Eden kennen lernten, sondern in Gebieten, in denen dem Sommer stets ein grausamer Ein-bruch von Kälte und Schnee folgte.
    Die ganze westliche Welt bis hin zu ihren tiefsten tropischen Vorposten lebte heute, als könne immer noch jederzeit der Winter über sie hereinbrechen, sie von allem abschneiden und sogar vernichten.
    Von den nahe der Eiskruste des Nordpols gelegenen Städten bis hinab in die Dschungel von Peru gedieh das menschliche Leben in Orten, die, Enklaven gleich, mit Hilfe von Maschinen, Mikrochips und Mikrobiologie entworfen und versorgt wurden und mehr an Energie, Brennstoffen, Kleidung und Lebensmit-teln horteten, als je gebraucht

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