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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Ihre großen, schläf-rigen Augen erfüllt von einem träumerischen Todeslicht, so sah ich sie.
    Und sie sagte laut - sodass ich es hörte, ein Flüstern wie ein Hauch aufsteigenden Rauchs: ›Der Hüter ... Asrael, der Hüter der Gebeine!‹
    Die Türen des Wagens waren noch offen, und die Männer, die sie versorgten, beugten sich zu ihr nieder.

    ›Was ist, mein Kind? Was hast du gesagt?‹
    ›Lass sie nicht sprechen.‹
    Sie starrte mich durch die Scheibe an und sagte es abermals; ich sah, dass sich ihre Lippen bewegten, hörte ihre Stimme, ihre Gedanken. ›Asrael‹, hauchte sie. ›Der Hüter der Gebeine!‹
    ›Sie sind tot, mein Liebling!‹, rief ich. Keiner von den Schaulu-stigen, die sich so dicht um mich drängten, kümmerte sich um meine Worte.
    Sie und ich, wir schauten einander an. Dann flammten ihre Seele, ihr Geist, beide sichtbar für mich, eine Sekunde lang auf, der vollständige Umriss ihres Körpers schwebte über ihr, das Haar ausgebreitet wie Flügel, das Gesicht ausdruckslos, schon von der Welt abgewandt - wer weiß das? -, und dann war sie fort, aufgestiegen inmitten gleißenden Lichts. Ich duckte mich vor diesem Licht, versuchte aber, noch einen Blick darauf zu erhaschen. Doch es war fort.
    Ihr Körper blieb zurück, eine leere Hülle. Die Türen wurden zu-geworfen. Abermals dröhnte der Klang der Sirenen in meinen Ohren.
    Aufheulend reihte sich der Wagen in den Strom der Fahrzeuge, zwang andere Fahrer auszuweichen. Eine Bewegung ging durch die Menge, ein Aufstöhnen und raues Ächzen. Ich selbst stand stocksteif auf dem Pflaster. Ihre Seele war entschwun-den.
    Ich hob den Kopf. Gegen meine Beine stießen fremde Knie, ein schwerer Schuh knallte auf meinen Fuß nieder. Ich trug den gleichen staubigen Schnürschuh wie mein Gegner. Beinahe wäre ich von dem schmalen Bordstein abgerutscht.
    Jetzt verschwand der Wagen aus meiner Sichtweite; kaum dreihundert Meter weit entfernt lagen die Eval-Brüder tot am Boden, doch keiner hier in diesem Aufruhr wusste davon, so belebt war die Straße. Ich dachte - ohne dass ich einen Zusammenhang, einen Grund dafür wusste - an das, was man von Babylon erzählte, nachdem Kyros es erobert hatte; da gab es diese witzige Bemerkung von dem griechischen Geschichtsschreiber Xenophon, oder war es Herodot? Er sagte, Babylon sei so groß und so dicht besiedelt gewesen, dass es zwei Tage gedauert habe, bis diese Nachricht die Leute in der Stadtmitte erreicht hatte.
    Na, ich wusste es früher!
    Ein Mann sagte: ›Wissen Sie, wer das war?‹ Das war Englisch, New Yorker Akzent, und ich drehte mich zu ihm um, als sei ich einer von ihnen, von den Sterblichen, und wollte ihm antworten, nur standen Tränen in meinen Augen. Ich wollte sagen: ›Sie haben sie ermordet.‹ Doch kein Ton kam über meine Lippen, obwohl ich doch einen Mund hatte. Und der Mann nickte, als sähe er meine Tränen. Mein Gott, hilf mir.
    Dieser Mann will mich trösten. Ein anderer sagte: ›Das war Gregory Belkins Tochter, sie war es. Das war Esther Belkin.‹
    ›Belkins Tochter.. .‹
    ›... »Tempel vom Geiste«.‹
    ›»Tempel vom Geiste Gottes«. Belkin.‹
    Was sagten mir diese Worte?
    Mein Meister! Wo bist du? Gib dich zu erkennen, zeige dich!
    Wer hat mich gerufen? Warum musste ich Zeuge dieses Ereignisses werden!
    ›Gregory Belkins Mädchen, die Tempelbrüder ...‹
    Wohin?
    Ich begann zu verblassen, ich merkte es deutlich, wie es immer ist, es kam schnell und erschreckend, als habe ein Gebieter es all den künstlichen, mich umgebenden Partikelchen befohlen, wie es auf der Tafel steht: ›Zurück an euren Be-stimmungsort.‹ Nur einen Moment lang klammerte ich mich an diesen Sturm aus Materie und befahl ihr, mich schützend zu umhüllen, doch mein Schrei war ein verwehtes Jammern. Ich starrte auf meine Hände, auf meine Füße unten auf dem Stra-
    ßenpflaster, auf die schmutzigen Schuhe aus Leder und Stoff und Schnüren, die man kaum als Schuhe bezeichnen konnte.
    ›Asrael, halte durch!‹, kamen die Worte von meinen Lippen.
    ›Nehmen Sie es nicht so schwer, junger Mann‹, sagte der Mann neben mir und schaute mich an, als täte ich ihm Leid. Er hob einen Arm, wollte ihn um mich legen. Ich hob die Hand.
    Ich sah Tränen.
    Doch der Wind war gekommen, der Wind, der alle Geister holt.
    Ich verlor die Bindung an die Erde.

    Der Mann schaute sich nach mir um, fand mich nicht mehr und wusste nicht, warum, er dachte, er sei selbst schon ganz konfus.
    Dann war er - und alle ringsum mit ihm -,

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