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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Zimmerdecke. Die Nacht ausgeschlossen. An einem hölzernen Schreibpult saß ein alter Mann.
    Betörender Duft nach Menschen, süß und gut. Und viele andere köstliche Düfte, zu viele, um sie alle genießen oder benennen zu können.
    Alle Geister, alle Götter, alle Geisterwesen weiden sich an Düften, was ich dir ja schon berichtet habe.
    Ich hatte gedarbt, und nun machten mich diese Gerüche fast trunken.
    Ich war mir meiner Existenz mehr als bewusst.
    Nach und nach nahm ich Gestalt an. Doch wer befahl mir das?
    Wessen Entscheidung war das? Auf jeden Fall fand ich es toll.
    Keiner der uralten Sprüche kam über meine Lippen; ich nahm einfach feste Gestalt an. Es geschah genau wie zuvor in der New Yorker Innenstadt, als ich Esthers Killern auf den Fersen gewesen war. Ich fühlte es deutlich, fühlte, wie sich mein Ich mit diesem Körper umhüllte, der sich so gut anfühlte, den ich mochte, obwohl ich mir nicht sicher war, was das bedeutete.
    Nun weiß ich es natürlich: Mein eigener Körper formte sich um mich, der, den du hier vor dir siehst, der Körper, den ich hatte, als ich vor längst vergangenen Zeiten ein lebendiger Mensch war.
    Niemand hier wusste etwas von mir. Ich stand hinter einem Bücherregal und beobachtete.
    Gregory Belkin hatte sich ganz bewusst in der Mitte des Raumes aufgebaut, im Licht einer Glühbirne, die an einem zerfransten Kabel hing. Und der alte Mann an dem Pult, der konnte mich unmöglich sehen.
    Der Alte hielt den Kopf gesenkt. Er trug das runde, schwarz-seidene Käppchen der streng nach den Geboten lebenden Juden. Die grün beschirmte Lampe auf dem Pult warf einen sanften goldenen Schimmer.
    Haar und Bart des Alten waren rein weiß, schön wie frisch gefallener Schnee, und zwei lange Locken hingen an seinen Schläfen herab und rahmten sein Gesicht ein. Am Hinterkopf schien die rosa Kopfhaut durch das dünne Haar, doch der Bart war dicht und fließend.
    An den Wänden standen Bücher in hebräischer und arabi-scher Sprache, in Aramäisch, Griechisch, Latein und Deutsch.
    Der Duft von Pergament und Leder stieg mir in die Nase. Ich saugte das Aroma ein, und einen Moment glaubte ich, eine Erinnerung werde lebendig oder in meinem Gedächtnis bäume sich alles auf, was ich zu töten versucht hatte.
    Doch auch dieser alte Mann war nicht mein Gebieter! Das erkannte ich sofort.
    Der Alte spürte meine Gegenwart nicht, nicht im Mindesten, sondern er starrte nur den Jüngeren an, der gerade eingetre-ten war, diesen Starken, Aufrechten, der feierlich vor dem Älteren stand. Jetzt zog er die weichen grauen Handschuhe aus, dabei achtete er darauf, sie in seine rechte Manteltasche zu stecken. Auf die linke klopfte er leicht mit der Hand, denn darin war das Schießeisen. Die kleine, todbringende Knarre. Ich hatte das Verlangen, sie losgehen zu hören. Doch Belkin war nicht hier, um sie zu benutzen.
    Das Zimmer war ziemlich vollgestopft. Mehrere Bücherregale trennten mich von dem Alten, doch ich konnte über sie hin-wegschauen. Ich roch Weihrauch, und eine Welle des Entzük-kens schwappte über mich hinweg. Ich roch Eisen, Gold, Tinte.
    War es möglich, dass die Gebeine hier in diesem Raum waren?
    Der alte Mann nahm seine Brille ab, ein ganz schlichtes rundes Silberdrahtgestell, biegsam und dünn, und blickte dem Besucher direkt ins Gesicht, ohne sich von seinem Stuhl zu erheben. Seine Augen waren sehr hell, eine Farbe, die eher an Wasser erinnerte als an Stein. Ich hatte diese Farbe schon immer gemocht. Doch seine Augen waren klein und alters-schwach, und da sie von den tiefen Falten seines Gesichts umgeben waren, war ihr anklagender Ausdruck auffallender als ihr Glanz.
    Stärker! Du wirst immer stärker, du bist fast vollständig sichtbar.
    Ich konnte das Gesicht des Jüngeren nicht ganz sehen, schob mich aber trotzdem noch weiter nach links, um besser verborgen zu sein, und währenddessen hatte sich mein Körper vollständig zusammengefügt und gefestigt. Wenn man die Bücherschränke als Maß nahm, schätzte ich, dass ich etwa so groß wie Belkin war.
    Über den Rücken seines schwarzen Mantels, der vom Regen über und über gesprenkelt war, lief eine Naht, und gegen die schwarzen Löckchen seines Nackens schob sich der weiße Schal, den er um den Hals trug, ein fein gewebter Schal wie der, den Esther im Tode umklammert hatte, der vielleicht immer noch dort in dem Warenhaus hing. Ich versuchte, mich an diesen Schal zu erinnern; sie hatte danach gegriffen, sich der Bedeutung dieser letzten Geste

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