Engel der Verdammten
nicht bewusst, wenn denn eine Bedeutung darin lag. Der Schal, den sie so gern hatte haben wollen, war schwarz und glitzernd von Perlen. Ich glaube, das habe ich dir erzählt. Aber ich bin schon wieder hier, bei diesen beiden. Bei ihnen. Habe Nachsicht mit mir.
Der alte Mann sagte jetzt etwas auf Jiddisch: ›Du hast deine Tochter getötet.‹
Ich war erstaunt. Wir kamen also direkt zur Sache?
Die Liebe, die ich für Esther hegte, schmerzte, als hätte sie aus nächster Nähe ihre Nägel in mein Fleisch gegraben und gesagt: ›Vergiss mich nicht, Asrael.‹ - Nur, dass sie zu so etwas nie und nimmer fähig gewesen wäre. Sie war mit einer für sie charakteristischen Demut gestorben; als sie meinen Namen ausgesprochen hatte, klang Erstaunen über etwas Wundersames dann mit.
Es war zu entsetzlich, ihren Tod wieder vor Augen zu haben.
Geh, flieg fort, Geist. Wende dich von alledem ab - von ihrem Tod, der Anklage dieses alten Mannes, diesem faszinierenden Zimmer mit den anrührenden Farben und Gerüchen. Löse dich davon, Geist. Sollen sie sich um die Stufen zum Himmel mü-
hen, ohne dass du dich einmischst. Letztendlich, brauchen denn menschliche Seelen den Hüter der Gebeine, um im Sheol zu landen?
Aber ich ging nicht fort. Ich wollte wissen, was der alte Mann meinte.
Der Jüngere lachte nur.
Nicht respektlos, nein, es war das ärgerliche, unbehagliche Lachen, das man ausstößt, wenn man sich nicht zu einer un-mittelbaren Antwort verleiten lassen will. Die abwehrende Handbewegung bedeutete nicht, dass er überrascht war. Er schüttelte den Kopf.
Ich wäre gern um ihn herumgegangen, um ihn zu betrachten, aber dafür war es jetzt zu spät, ich wusste, dass ich jetzt völlig materialisiert war, dass ich hier stand, dass meine Hände die Bücher in dem Regal vor mir berührten, und ich schob mich sehr langsam nach links, damit mich die Bücherwand verbarg, sonst hätte mich der alte Mann sehen können, obwohl der auch jetzt keinen Hinweis darauf gab, dass er mich bemerkt haben könnte.
Der jüngere Mann seufzte.
›Rebbe, warum sollte ich Rachels Tochter töten?‹, fragte er, ebenfalls Jiddisch, obwohl ihm die Sprache schwer fiel. ›Warum sollte ich mein einziges Kind töten? Esther, meine schöne Esther‹, fügte er hinzu, und es klang tief empfunden und ernst.
Aber er mochte das Jiddisch nicht. Er wollte bei seinem gewohnten Englisch bleiben.
›Du hast es aber getan‹, gab der Alte zurück. Voller Hass kam es von seinen trockenen Lippen. Er wechselte ins Hebräische:
›Du bist ein Götzenanbeter; du bist ein Mörder; du hast dein Kind getötet. Du hast sie ermorden lassen. Das Böse ist dein Begleiter. Du stinkst danach.‹
Ich war ein wenig erschüttert. Die Verblüffung über den Zorn des alten Mannes verursachte mir körperliches Missbehagen.
Der Jüngere zog sich wieder auf sein Geduldsspiel zurück, bewegte die Füße unruhig, schüttelte den Kopf, als betrachte er nachsichtig einen auf seiner Türschwelle schwadronieren-den Propheten.
›Du, mein Lehrer‹, flüsterte Gregory Belkin auf Englisch, ›mein Vorbild. Mein Großvater. Und du machst mich für ihren Tod verantwortlich?‹
Das machte den Alten wütend.
Er sprach jetzt ebenfalls Englisch: ›Was willst du von mir, Gregory? Du bist nie grundlos in dieses Haus gekommen.‹ Seine Wut war jedoch ruhig und kalt. Dieser alte Mann würde nichts wegen Esthers Tod unternehmen. Er saß an seinem Pult, die Hände über einem offenen Buch gefaltet. Winzige hebräische Schriftzeichen.
Wie ein Faustschlag traf mich erneut das Bewusstsein, sie verloren zu haben, und ich wollte laut sagen: ›Alter, ich habe sie gerächt, ich habe die drei Meuchelmörder mit ihrer eigenen Waffe getötet. Ich habe sie alle umgebracht. Sie starben auf dem Straßenpflaster.‹
Ich spürte Esthers Gegenwart, als sei ich der Einzige hier, der zu ihrem Gedenken ein Licht entzündete. Keiner der beiden trauerte um sie, zur Hölle also mit all den Anschuldigungen.
Warum lässt du zu, dass das geschieht, Asrael? Um die zu trauern, die man nicht kennt, ist leicht. Vielleicht sogar erregend. Aber allein zu sein? Das heißt, lebendig zu sein. Und du bist ganz sicherlich in aller Heimlichkeit und allein gekommen.
›Du brichst mir das Herz, Rebbe‹, Gregory sprach noch immer Englisch. Offensichtlich fiel ihm das alltägliche Amerikanisch wesentlich leichter. Sein Körper sank in sich zusammen bei diesem geheuchelten Laut der Verzweiflung. Die Hände hatte er tief in
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