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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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würde mich nicht mehr kontrollieren können. Der Sturmwind würde kommen, er würde mich mit sich reißen, zusammen mit all den anderen verlorenen, heulenden Seelen. Als ich den schlechten Gebieter in Kairo getö-
    tet hatte, war auch der Sturmwind gekommen, und ich hatte gekämpft, besinnungslos.
    Bleibe hier, Asrael, lebendig. Die Vergangenheit soll warten.
    Der Schmerz kann warten. Der Sturmwind soll warten bis ans Ende aller Tage. Bleibe hier an diesem Ort, lebendig. Sei dir dessen bewusst.
    Ich bin hier, Alter.
    Ruhig, ohne dass es sein Enkel bemerkte, betrachtete er mich. Schließlich sprach er wieder, ohne die Augen von mir abzuwenden, obwohl Gregory sich nach vorn neigen musste, um seine Worte zu hören.
    ›Gehe dorthin, hinter mich, um das Regal herum‹, sagte er auf Englisch, ›und öffne den Wandschrank, den du da siehst. Darin findest du ein Stück Tuch. Hebe es hoch, und bringe her, was darunter ist. Es ist schwer, aber du wirst es tragen können. Du bist kräftig genug.‹
    Ich hörte, wie ich nach Luft schnappte, und mein Herz weinte.
    Die Gebeine waren hier! Genau hier.
    Gregory zögerte kurz, vielleicht weil er nicht gewohnt war, An-ordnungen Folge zu leisten oder auch nur die kleinste Kleinigkeit selbst zu tun. Was weiß ich! Doch dann schritt er eilig zur Tat. Er hastete hinter das Regal.
    Ich hörte Holz knarren und roch wieder den Duft von Zedernholz und Weihrauch. Ich hörte metallene Schnappriegel klik-ken. Ich merkte, wie ich mich auf die Fußspitzen stellte, um dann wieder langsam in einen sicheren Stand zurückzusinken.
    Der alte Mann und ich ließen uns währenddessen nicht aus den Augen. Ich trat aus dem Schatten des Bücherschranks, damit er mich sehen konnte in meinem langen Mantel, der dem seinen aufs Haar glich, und nur für den Bruchteil einer Sekunde zeigte er ein kleines bisschen Furcht, dann bedeutete er mir mit einem behutsamen Neigen seines Kopfes, wieder in mein Versteck zurückzukehren.
    Das tat ich.
    Hinter ihm, meinen Blicken entzogen, hantierte Gregory, er fluchte lauthals.
    ›Schiebe die Bücher zur Seite‹, sagte der Rabbi. ›Schiebe sie aus dem Weg, alle‹, dabei sah er mich an, als wolle er mich mit seinen Augen unter Kontrolle halten. ›Siehst du es jetzt?‹
    Der Geruch von Staub stieg mir in die Nase, und ich sah Staubkörner im Licht aufwirbeln. Dann hörte ich den Klang umfallender Bücher. Ach, was war es schön, mit Ohren zu hören und mit Augen zu sehen. Nur nicht weinen, Asrael, nicht in Gegenwart dieses Mannes, der dich verachtet.
    Unbewusst hob ich die Fingerspitzen an die Lippen, instinktiv, als wolle ich angesichts eines drohenden Unheils ein Gebet sprechen. Dabei spürte ich die Haare auf meiner Oberlippe und die dichte Masse meines Bartes. Ich mochte diesen Bart.
    Ist er wie deiner, Rabbi, als du jung warst?
    Der alte Mann saß starr, unzerstörbar, überlegen und wach-sam da.
    Jetzt trat Gregory hinter dem Regal hervor in den Lichtkreis.
    In seinen Armen hielt er die Truhe!
    Ich sah, dass auf dem Zedernholz immer noch Gold haftete.
    Das sah ich, und dass sie achtlos mit eisernen Ketten umwik-kelt war.
    Eisen! Sie dachten also, das könne mich, Asrael, darin festhalten? Eisen sollte so etwas wie mich zurückhalten? Ich wollte lachen. Aber ich sah sie an, die Truhe, die Gregory wie ein Baby im Arm hielt, die Truhe, die immer noch goldüberzogen war.
    Eine undeutliche Erinnerung über ihre Herstellung ging mir durch den Kopf, doch keine Person trat deutlich daraus hervor.
    Ich erinnerte mich nur an Sonnenlicht auf Marmor und freundliche Worte. Liebe, eine Welt voller Liebe, und das ließ mich an Esther denken.
    Wie triumphierend und gleichzeitig fasziniert Gregory doch war. Es kümmerte ihn überhaupt nicht, dass sein feiner wollener Mantel voller Staub war. Dass Staub in seinen Haaren hing. Er starrte nieder auf dieses Ding, diesen Schatz, und er drehte sich um, um ihn dem alten Mann zu präsentieren wie ein Kind.
    ›Nein!‹ Der alte Mann hob die Hände. ›Stelle sie dort auf den Boden, und tritt ein Stück zurück.‹
    Ich lächelte bitter. Besudle dich nur nicht damit.
    Er achtete nicht auf mich, sondern lenkte den Blick auf die Truhe, die Gregory auf den Boden stellte.
    ›Meine Güte, glaubst du, es geht in Flammen auf ?‹, fragte Gregory. Sorgfältig schob er die Truhe mitten unter den Licht-kegel, genau vor das Pult des Alten. ›Dies ist uralt, diese Schrift da, das ist kein Hebräisch, das ist Sumerisch!‹ Er zog die Hände zurück und

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