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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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rieb sie gegeneinander. Er war leidenschaftlich und ganz überwältigt.
    ›Rebbe, das ist unbezahlbar.‹
    ›Ich weiß, was es ist‹, sagte der alte Mann, wobei er seine Augen zwischen mir und der Truhe unbefangen hin und her wandern ließ. Ich rührte mich nicht. Ich lächelte nicht einmal.
    Gregory starrte hingerissen auf das Ding, als sei es das Christkind m der Krippe und er sei einer der Schäfer, der gekommen war, den Fleisch gewordenen Sohn Gottes zu betrachten.
    ›Was ist das, Großvater? Was steht da drauf?‹ Er berührte vorsichtig die Eisenbänder, so als erwartete er, von dem alten Mann zurückgehalten zu werden. Er berührte die Kettenglie-der, die dick und unförmig waren, und tippte auf eine Schriftrolle, die dort, wo sich die eisernen Ketten kreuzten, zwischen die Glieder gesteckt war.
    Diese Rolle sah ich erst jetzt, als Gregorys Finger sacht ihre Kanten berührten. Das Gold auf der Truhe blendete mich und ließ mir Tränen in die Augen steigen. Ich roch Zedernduft und Gewürze und den Rauch, der unter der Goldplattierung das Holz durch und durch getränkt hatte. Ich roch das Fleisch von Menschen und den Duft von Opfergaben.
    In meinem Kopf drehte sich plötzlich alles.
    Ich roch die Gebeine.
    O du mein Gott, mein ganz eigener Gott, wer nur hat mich gerufen? Mein ganz persönlicher Gott, wenn ich doch sein heiteres Gesicht einen Moment sehen könnte. Das Gesicht des Gottes, der stets mit mir ging, des Gottes, den jeder Mensch für sich selbst hat, seinen persönlichen Gott, wie ich meinen damals gesehen hatte. Wenn er doch jetzt nur zu mir käme!
    Das war keine echte Erinnerung, verstehst du? Das war eine plötzliche unerklärliche Sehnsucht, die mich kalt und verwirrt zurückließ.
    Doch ich konnte nicht aufhören, an dieses Wesen, ›mein eigener Gott‹, zu denken. Würde er lachen? Würde er sagen: ›Hat dich also dein Gott verlassen, Asrael, und selbst unter den Auserwählten rufst du noch nach mir? Habe ich dich nicht gewarnt? Habe ich dir nicht gesagt, fliehe, solange es noch ging, Asrael?‹
    Doch er war nicht hier, mein Gott, wer immer das auch gewesen war, und er lächelte nicht. Er war nicht der Freund an meiner Seite, der mit mir in der Abendkühle am Flussufer ent-langschlenderte. Und er sagte all dies nicht. Aber einst war er bei mir gewesen, und das wusste ich. Die Vergangenheit war wie eine Sintflut, die mich zum Hineinfallen verlockte, damit ich ertränke.
    In mir blühte eine wilde Hoffnung auf, eine Hoffnung, die meinen Atem schneller gehen ließ, und die Aromen dieses Raumes waren erstickend für mich in meiner Leidenschaft.
    Vielleicht hat dich niemand beschworen, niemand gerufen, Asrael! Vielleicht bist du von ganz allein hervorgekommen, und du bist dein eigener Gebieter! Und du kannst diese beiden Männer hier hassen und missachten nach Herzenslust!
    Es war so herzerfrischend, diese Kraft, dieses Lächeln, dieser Anschein eines Scherzes, dass ich endlich, endlich selbst diese Macht besitzen sollte. Ich konnte mich fast leise lachen hören. Ich schloss die Finger um die Locken meines Bartes und zog ganz, ganz sanft daran.
    ›Diese Schriftrolle ist unversehrt, Rebbe‹, sagte Gregory eifrig.
    ›Sieh, ich kann sie aus dieser Kette lösen. Kannst du sie lesen?‹
    Der Alte sah auf, als hätte ich etwas gesagt.
    Du findest mich schön, alter Mann? Ich weiß, was du siehst.
    Ich brauche es nicht selbst zu sehen. Dies ist Asrael, nicht nach den Wünschen eines Gebieters geformt, nicht in diese oder jene Form gebracht, um einem Gebieter zu dienen, sondern Asrael, wie Gott mich einst erschaffen hat, als Asrael noch Geist und Seele und Körper in einem war.
    Der alte Mann warf mir einen vernichtenden Blick zu. Du stehst unter meinem Befehl! Zeige dich nicht, Geist.
    Tatsächlich, alter Mann? Und ich hasse dein kaltes Herz! Irgendein Band verbindet uns, doch du bist so voller Hass, und mir geht es nicht anders. Wie können wir jemals wissen, ob Gottes Hand hier im Spiel ist, ihretwegen, Esthers wegen?
    Wie gebannt sah er mich an, unfähig zu einer Antwort.
    Gregory kroch fast in seine Trophäe hinein, ängstlich, mit spitzen Fingern, berührte er die Schriftrolle.
    ›Rebbe, dieses Papier allein ist schon ein Vermögen wert‹, sagte er. ›Nenne mir deinen Preis. Lass mich die Rolle öffnen.‹ Plötzlich legte er seine Hand mit geöffneter Handfläche unmittelbar auf das Holz der Truhe, er war ganz verliebt in das Ding.
    ›Nein!‹, sagte der Alte. ›Nicht unter meinem

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