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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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›Ein Spielzeugs sagte mein Vater.
    ›Soll er damit spielen! Asrael, wenn dir dieser ganze abergläubische babylonische Krempel zum Hals heraushängt, zerbrich das Ding. Oder verkaufe es. Unseren Gott kannst du nicht zerbrechen, denn unser Gott besteht nicht aus Gold oder kostbarem Metall. Er hat auch keinen Tempel. Er ist erhaben darüber.‹
    Ich nickte, ging in mein Zimmer, einen großen Raum, ausgestattet mit seidenen Kissen und Vorhängen - ich komme noch darauf zurück, weshalb -, legte mich nieder und, na ja, ich fing einfach an, mit Marduk zu sprechen, und ich bat ihn, mein Schutzpatron zu sein.
    Genau so machen es die Amerikaner heutzutage, in diesem Zeitalter, mit ihrem Schutzengel. Ich weiß nicht, ob viele Babylonier diese Sache mit dem persönlichen Gott so ernst nahmen wie ich. Du kennst doch das alte Sprichwort: ›Wenn du vorausplanst, ist ein Gott an deiner Seite.‹ Na, was heißt das denn?«
    Ich sagte: »Die Babylonier waren eher praktisch veranlagt als abergläubisch, nicht wahr?«
    »Jonathan, sie waren genau wie die Amerikaner von heute.
    Ich kenne kein Volk, das den alten Sumerern und Babyloniern ähnlicher wäre. Geschäftemachen war alles, aber jedermann holte sich vorher Rat bei Astrologen, redete von Magie und beschäftigte sich damit, böse Geister auszutreiben. Die Leute hatten Familie, sie aßen, tranken, mühten sich, strebten mit allen Mitteln nach Erfolg, und doch plapperten sie fortwährend von Glück, Zufall. Zwar reden die Amerikaner heutzutage nicht mehr von Dämonen, doch stattdessen benutzen sie gebets-mühlenartig Begriffe wie ›negatives Denken‹ oder ›selbstzer-störerische Vorstellungen oder ›mangelndes Selbstbe-wusstsein‹. Es gibt eine Menge Gemeinsamkeiten zwischen Amerikanern und Babyloniern, eine Menge. Ich glaube fast, dass ich hier in Amerika das gefunden habe, was Babylon am nächsten kommt, im positiven Sinne. Wir waren nicht die Sklaven unserer Götter! Und auch keines anderen Sklaven.
    Aber wie bin ich darauf gekommen? Marduk, mein ganz persönlicher Gott. Ich betete ständig zu ihm. Ich bot ihm Opfergaben dar, wenn keiner hinsah; du weißt schon, Weihrauchbröckchen etwa. Ich errichtete einen kleinen Altar in einer Nische in der dicken Ziegelwand meines Zimmers, und davor goß ich einige Tropfen Honig und Wein für ihn aus. Aber es kümmerte sich niemand groß darum. Doch dann begann Marduk, mir zu antworten. Ich weiß nicht genau, wann er das erste Mal reagierte, ich glaube, da war ich noch ziemlich jung.
    Ich pflegte irgendetwas Nichtiges zu ihm zu sagen wie: ›Sieh nur, meine kleinen Brüder toben wieder wild herum, und mein Vater lacht nur, als sei er einer von ihnen, und ich muss mich hier um alles kümmern!‹ Und Marduk lachte. Ich sagte ja schon, dass Geister lachen können. Und dann antwortete er wohl etwas Nettes wie: ›Du kennst doch deinen Vater. Er tut, was du ihm sagst, großer Bruder.‹ Er hatte eine sanfte Stimme, die Stimme eines Mannes. Doch erst als ich schon beinahe neun Jahre war, begann er, mir Fragen ins Ohr zu flüstern, und dann waren es meistens schlichte kleine Rätsel und Scherze und Neckereien über Jahwe. Er wurde es nie leid, mich mit Jahwe aufzuziehen, mit diesem Gott, der es vorzog, in einem Zelt zu leben und es vierzig Jahre lang nicht fertig gebracht hatte, sein Volk aus einem mickrigen Stück Wüste herauszuführen. Er brachte mich zum Lachen. Und obwohl ich versuchte, Respekt zu zeigen, ging ich doch zusehends vertraulicher mit ihm um, und sogar großmäulig und ein bisschen frech.
    ›Warum erzählst du all diesen Unsinn nicht Jahwe selbst, da du doch ein Gott bist?‹, fragte ich ihn. ›Lade ihn ein in deinen fantastischen, goldgefüllten Tempel, der geschmückt ist mit Hölzern aus den Zedern des Libanon.‹ Und Marduk antwortete dann schlagfertig: ›Was? Mit deinem Gott sprechen? Niemand kann das Antlitz deines Gottes ansehen, ohne zu sterben!
    Was willst du mir zumuten? Was ist, wenn er sich in eine Feuersäule verwandelt, wie damals, als er euch aus Ägypten führ-te ... ho, ho, ho ... und er meinen Tempel zerschmettert und ich dann am Ende in einem Zelt herumgeschleppt werde, genau wie er?‹
    Eigentlich dachte ich über all dies kaum nach, bis ich etwa elf war. Erst da ging mir auf, dass nicht alle Leute die Stimme ihres persönlichen Gottes hörten, und auch Folgendes wurde mir da klar: Ich musste Marduk nicht ansprechen, damit er sich mit mir unterhielt. Das Gespräch konnte durchaus von ihm ausgehen,

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