Engel der Verdammten
hast. Wenn dein Bruder dich anruft, bist du nicht für ihn zu sprechen.
Wenn dein Bruder dich besucht, wirst du ihn nicht empfangen.
Dieses Versprechen verlange ich von dir.‹
›Jedes Mal wenn wir uns sehen, verlangst du das aufs Neue, Großvater‹, sagte Gregory. Er lachte. ›Dein letzter Satz ist jedes Mal diese Bitte, und immer wieder verspreche ich es.‹
Er legte den Kopf auf die Seite und lächelte den Alten herzlich an, mit einer Herablassung und rasend machender Unverschämtheit.
›Du wirst mich nicht wieder sehen, Großvater. Nie, nie mehr.
Wenn du stirbst, werde ich nicht über die Brücke und an dein Grab eilen. Das willst du doch hören, oder? Ich werde auch nicht zu Nathan gehen, um mit ihm zu trauern. Ich werde nicht das Risiko in Kauf nehmen, ihn oder irgendjemanden eurer Leute bloßzustellen. In Ordnung?‹
Der Alte nickte.
›Aber ich verlange auch etwas von dir, wenn ich Nathan nie wieder treffen soll‹, sagte Gregory.
Der alte Mann machte eine fragende Geste mit seinen Händen.
›Sag meinem Bruder, dass ich ihn liebe. Ich bestehe darauf, dass du ihm das sagst.‹
›Ich werde es ihm ausrichten.‹
Dann stand Gregory mit einer raschen Bewegung auf und nahm die Truhe in die Arme, wobei die Ketten über das Pult schrammten.
Abermals spürte ich, wie mich ein Zittern durchlief, und fühlte zusätzliche Kraft durch meine Arme und Beine rinnen, und ich merkte, wie meine Finger sich rührten. Es war ein Gefühl, als pieke man mich mit dünnen Nadeln. Dass das durch seine Berührung verursacht wurde, gefiel mir ganz und gar nicht.
Aber vielleicht war es auch dieses Gefühl der Zweckgebun-denheit, der extremen Konzentration, das wir alle hier in diesem Raum erzeugten.
›Leb wohl, Großvater‹, sagte Gregory. ›Eines Tages werden sie kommen und über dich schreiben wollen - meine Biogra-phen, die, die die Geschichte des »Tempels vom Geiste Gottes« niederlegen.‹ Er fasste die Truhe fester. Roter Staub rieselte von den rostigen Ketten auf seine Mantelaufschläge, aber er beachtete es nicht. ›Sie werden deinen Nachruf schreiben, weil du mein Großvater bist. Und du verdienst diese Anerkennung.‹
›Verlass mein Haus.‹
›Aber sicher. Du brauchst dir im Augenblick keine Gedanken darüber zu machen. Es gibt keine Aufzeichnungen über den Jungen, den du vor dreißig Jahren betrauert hast. Ich werde erst auf meinem Sterbebett darüber sprechen.‹
Der alte Mann schüttelte langsam den Kopf, verkniff sich aber eine Antwort.
›Aber sag doch, bist du nicht ein kleines bisschen neugierig wegen dieser Truhe und ihres Inhalts, und was passiert, wenn ich die Beschwörungen anstimme?‹
›Nein.‹
Gregorys Lächeln verblasste. Er betrachtete den alten Mann eindringlich, dann sagte er: ›Nun gut, Großvater. Sonst haben wir wohl nichts mehr zu besprechen, nicht wahr? Absolut nichts mehr.‹
Der alte Mann nickte.
Zorn stieg in Gregory auf, ließ seine Wangen feucht und rot werden. Aber er gönnte sich keine Zeit dafür. Er schaute nieder auf das Ding in seinen Armen, drehte sich auf dem Absatz um und eilte zur Tür, stieß sie mit dem Knie auf und ließ sie hinter sich ins Schloss fallen.
Der alte Mann hatte seine Haltung beibehalten. Er schien den Staub auf seinem Pult zu betrachten, die rostigen Krümel, die das Eisen auf dem polierten Holz hinterlassen hatte. Aber ich war mir nicht sicher.
Ich spürte nichts Außergewöhnliches. Weder rührte ich mich, noch gewann ich an Stärke hinzu, als sich Gregory mit der Truhe aus meiner Nähe entfernte. Nein, er war nicht der Gebieter, nie und nimmer, auf gar keinen Fall. Aber dieser alte Mann? Ich musste es herausfinden.
Gregorys Schritte verhallten in der Gasse.
Ich kam aus meinem Versteck hervor, trat an das Pult heran und stellte mich direkt vor ihn.
Der alte Mann war entgeistert.
Der Schrei, den er hätte von sich geben müssen, wurde von starrem Schweigen geschluckt, seine Augen zogen sich zusammen, und als er sprach, erklang nur ein Flüstern.
›Zurück in die Gebeine, Geist‹, hauchte er.
Ich setzte all meine Kraft ein, um mich gegen ihn zu behaupten, ich übersah seinen Hass, ich ließ keinen Gedanken an all die Ungerechtigkeiten, an all die Lieben meiner langen, un-glücklichen Existenz aufkommen. Ich sah ihn an und hielt stand. Ich nahm seine Worte kaum wahr.
›Warum hast du die Gebeine an ihn weitergegeben?‹, fragte ich. ›Was bezweckst du damit? Wenn du mich beschworen hast, um ihn zu vernichten, will ich es
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