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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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wissen!‹
    Er drehte sein Gesicht zur Seite, als wolle er mich nicht ansehen.
    ›Hebe dich hinfort, Geist!‹, verkündete er auf Hebräisch.
    Ich beobachtete, wie er, den Stuhl beiseite stoßend, aufstand und die Hände in die Luft warf; als er sprach, erkannte ich He-bräisch, dann Chaldäisch, ja, das konnte er auch, und er sprach es mit perfekter Betonung, doch ich hörte die Worte nicht. Seine Worte berührten mich nicht, konnten mir nichts anhaben.
    ›Warum hast du behauptet, dass er Esther getötet hat? Warum, Rabbi? Sag's mir!‹
    Stille. Er war verstummt. Nicht einmal ein stummes inneres Gebet sprach er. Er stand wie gebannt, den Mund fest zu-sammengepresst unter dem weißen Oberlippenbart, die Lok-ken seines Haares bebten leise, das Licht hob die gelblichen wie die schneeweißen Strähnen seines Bartes gleichermaßen hervor.
    Er hatte die Augen geschlossen, und nun begann er, Gebete in hebräischer Sprache zu wispern, wobei er wieder und wieder in schneller Folge den Oberkörper wiegte.
    Seine Wut und seine Furcht standen sich in nichts nach, doch beides wurde übertroffen von dem Hass, der ihn verzehrte.
    ›Willst du Gerechtigkeit für Esther?‹, schrie ich ihm entgegen.
    Doch nichts konnte ihn aus seinem Versenktsein in die Gebete reißen.
    Nun sprach ich leise auf Chaldäisch: ›Ihr winzigsten Partikelchen aus Land und Luft und Bergen und Meer, vom Lebendigen und vom Unbelebten, die ihr euch um mich schart und mir diese Form verleiht, hebt euch fort von mir, doch nur so weit, dass ich euch noch mit meinem Willen wieder herbeibefehlen kann, und lasst mir nur meine Umrisse, auf dass dieser sterbliche Mensch mich so sehe und zittere.‹
    Die Birne, die von der Decke hing, schwankte sacht an ihrem nackten Kabel. Der Bart des Alten wehte leicht im Luftzug. Ich sah, dass ihn das blinzeln ließ.
    Nun konnte ich durch meine eigenen durchscheinenden Hän-de hindurch den Fußboden sehen.
    ›Hebt euch fort von mir‹, flüsterte ich, ›und haltet euch in der Nähe bereit, auf meinen Befehl hin zurückzukehren, auf dass Gott selbst mich nicht von einem Mann unterscheiden könnte, den ER selbst geschaffen hat!‹
    Ich verschwand vollkommen.
    Dabei streckte ich ihm meine in Auflösung begriffenen Hände entgegen, um ihn zu erschrecken. Ich wollte ihn verletzt sehen, wenigstens ein kleines bisschen. Ich wollte ihm trotzen.
    Doch er hielt nicht inne in seinen Gebeten.
    Aber ich hatte keine Zeit, müßige Spielchen mit ihm zu treiben.
    Ich wusste nicht, ob meine Energie für mein Vorhaben ausreichte.
    Ich durchdrang die Wände und stieg auf über die Hausdächer, fuhr durch kribbelnde Drähte und höher in die kühle Nachtluft hinauf.
    ›Gregory‹, sagte ich, mit der gleichen Sicherheit, als habe mich mein einstiger Meister Samuel ausgesandt. ›Gregory!‹
    Und dort unten im Verkehrsstrom auf der Brücke sah ich seinen Wagen, lang und glänzend hielt er Schritt mit den Wagen seiner Leibwächter rechts und links und vor und hinter ihm; wie eine Schar Zugvögel, die stetig geradeaus fliegen, ohne je gegen den Wind kämpfen zu müssen.
    ›Hinab und an seine Seite, doch er soll mich nicht sehen!‹
    Kein Gebieter hätte das entschiedener sagen können, während er mit dem Finger auf das Opfer wies, das ich zu plündern, zu töten oder in die Flucht zu schlagen hatte.
    ›Nun komm, Asrael, ich befehle es!‹, sagte ich.
    Und vorsichtig ließ ich mich hinab in den weichen, warmen In-nenraum des Wagens, in eine Welt aus dunklem syntheti-schem Samt und getöntem Glas, das die Nacht draußen wie tot aussehen ließ, eingehüllt in einen dichten Nebel.
    Ich nahm den Platz ihm gegenüber ein, lehnte mich an die Wand, die uns von der Fahrerkabine trennte, und verschränkte wieder die Arme. Dabei betrachtete ich ihn, wie er da zusammengesunken saß mit der Truhe im Arm. Er hatte die nutzlo-sen eisernen Ketten entfernt, die nun schmutzig und zerbrochen auf dem mit Teppichen ausgelegten Boden lagen.

    Ich hätte vor Glück weinen können. Ich hatte eine solche Angst gehabt! Ich war so überzeugt gewesen, dass ich es aus mir selbst heraus nicht konnte! Mein ganzer Wille war so auf diese Anstrengung fixiert gewesen, dass ich kaum Atem genug in mir hatte, zu merken, dass es tatsächlich geschafft war!
    Gemeinsam fuhren wir die Straße entlang, der Geist, der ihn beobachtete, und er, der Mann, der seinen Schatz umklammert hielt, ihn sorgfältig auf seinen Knien balancierte und nun in seiner Tasche nach den Papieren suchte, sie

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