Engel der Verdammten
da. Der Geist hätte gut und gern er sein können.
Gregory streckte die Hände aus und griff, ohne um Erlaubnis zu fragen, nach der Truhe. So unangenehm es mir auch war, ich spürte daraufhin ein Glühen und wurde auf der Stelle massiver.
Der alte Mann nahm den Blick nicht von Gregorys Händen.
Schließlich lehnte er sich zurück, seufzte tief und betont, wie um sich bemerkbar zu machen, und griff nach einigen Bögen Papier - ziemlich dünnes, billiges Papier, nichts, das auch nur annähernd mit Pergament zu vergleichen gewesen wäre - und streckte sie Gregory über die Truhe hinweg entgegen.
Gregory nahm sie.
›Was ist das?‹
›Die Transkription dessen, was auf der Truhe steht‹, sagte der Alte auf Englisch. ›Siehst du nicht die Schriften?‹ Seine Stimme klang hoffnungslos. ›Der Text steht dort in drei Sprachen.
Man könnte die erste Sumerisch, die zweite Aramäisch, die dritte Hebräisch nennen, obwohl sie alle drei uralte Dialekte sind.‹
›Ach, das ist mehr als nett von dir, ich hätte nicht so viel Ent-gegenkommen erwartet.‹
Das dachte ich auch. Was hatte den alten Mann veranlasst, so gefällig zu sein? Gregory konnte die Blätter kaum ruhig halten.
Er stauchte sie, dass die Kanten ordentlich aufeinander lagen, und wollte etwas sagen.
›Nein!‹, kam ihm der Alte zuvor. ›Nicht hier. Es gehört nun dir, und du nimmst es mit. Und du kannst die Worte sprechen, wo und wann immer du willst, aber nicht unter meinem Dach. Und ich erwarte noch ein letztes Versprechen von dir, im Tausch für diese Schriftstücke, die ich für dich angefertigt habe. Du weißt, wozu sie gut sind. Damit kannst du den Geist beschwö-
ren. Darin steht, wie du es machen musst.‹
Gregory lachte leise. ›Nochmals, deine Freundlichkeit überwältigt mich schier‹, sagte er. ›Ich weiß, wie sehr du es hasst, selbst mit Nichtigkeiten, die unrein sind, in Kontakt zu kommen.‹
›Dies ist keine Nichtigkeit«, sagte der alte Mann.
›Also, wenn ich diese Worte spreche, erscheint der Hüter der Gebeine?‹
›Wenn du es nicht glaubst, warum willst du es dann haben?‹, fragte der Alte.
Dieser Schock ging mir durch und durch, sodass ich völlig sichtbar wurde.
Ich drückte mich an die Wand, wagte nicht einmal meine eigenen Glieder anzusehen. Das Tuch der Kleider legte sich ge-räuschlos um meinen Körper. Ich gab den stillen Befehl: ›Die Schuhe sollen glänzen, Gold soll sich um mein Handgelenk legen, und mein Gesicht sei glatt geschoren, doch ansonsten soll der Haarschmuck meiner Jugend bleiben!‹
Ich spürte das ganze Gewicht meines Körpers, der mir massiver als am Abend zuvor erschien. Ich hätte gern an mir herab-gesehen, aber ich wagte es nicht, aus Furcht, mich bemerkbar zu machen.
›Du meinst doch nicht etwa im Ernst, dass ich daran glaube‹, antwortete Gregory höflich. Er faltete die Papiere und steckte sie sorgsam in die Brusttasche seines Mantels.
Der alte Mann entgegnete ihm nichts darauf.
›Ich will Näheres über das Ding erfahren, ich will wissen, wovon Esther redete, ich will es haben. Mich verlangt danach.
Und zwar, weil es etwas Kostbares ist, weil es einmalig ist und weil sie es mit ihren letzten Worten erwähnte.‹
›Ja, das gibt dem Ding einen zusätzlichen Wert‹, sagte der Alte, und seine Stimme klang so hart und klar, wie ich sie noch nicht von ihm gehört hatte.
Ich fühlte das Gewicht meines Haares auf meinen Schultern, fühlte die Feuchtigkeit, die aus dem Beton der Wand eisig in meinen Nacken kroch. Ich ließ den Schal um meinen Nacken dicker werden, sodass er sich höher um meinen Hals schmiegte. Die Glühbirne vibrierte. Gegenstände knackten, doch keiner der beiden schien darauf zu achten, so sehr waren sie mit sich selbst und mit der Truhe beschäftigt.
›Die Ketten sind schon verrostet‹, bemerkte Gregory und zeigte mit dem Finger darauf. ›Kann ich sie abnehmen?‹
›Nicht hier.‹
›Na, gut, dann gehe ich davon aus, dass dieser Handel abgeschlossen ist. Aber du willst ja noch etwas, nicht wahr? Ein endgültiges, ein letztes Versprechen. Das weiß ich. Ich sehe es dir an. Sprich. Ich will mit meiner Kostbarkeit nach Hause und sie öffnen. Sprich. Was willst du noch?‹
›Versprich mir, dass du nicht in dieses Haus zurückkehrst.
Suche mich nie wieder auf. Versuche auch nie wieder, mit deinem Bruder zusammenzutreffen. Erzähle niemanden, dass du als einer von uns geboren wurdest. Du wirst deine Welt von der unseren fern halten, wie du es bisher getan
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