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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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erleichtert auf.
    ›Halte die Augen offen!‹, rief Remath.
    Und als alle Bienen tot niedergefallen waren und der große seidene Drache in sich zusammengesunken zu meinen Füßen lag, damit ich ihn mit dem Schwert zerfetzen konnte, erhob sich abermals das Geschrei der Menge.
    Man trug mich die Stufen hinauf, auf das Dach. Von dort aus konnte ich weit über die Felder blicken. Ich sah die Masse des Volkes, die sich schier ins Unendliche erstreckte. Ich hob meinen Arm mit dem Schwert, und indem ich mich nach Osten, Westen, Norden und Süden wandte, hob ich es immer wieder in die Höhe und lächelte, und das Volk antwortete mir mit Hymnen. Die ganze Erde sang mir ihre Antwort.
    ›Das ist so schön‹, sagte ich, ›so unbeschreiblich schön.‹
    Aber niemand war hier, um mich zu hören. Die frische Luft munterte mich ein wenig auf, strich über meine Nasenlöcher und meine Kehle und kühlte meine Augen. Nun scharten sich die Priesterinnen des Tempels um mich, streuten mir Blumen und warfen sie hoch in die Luft. Und dann führte man mich zu dem königlichen Ruhebett.
    ›Du kannst jede der Frauen haben, ganz wie es dir beliebt, doch ich würde dir raten zu schlafen‹, sagte Remath.
    ›Ein toller Einfall. Und wie verhindert ihr, dass ich im Schlaf sterbe?‹
    ›Ich kann dein Herz schlagen hören. Du wirst lange genug leben, um den Weg zurück zu schaffen. Du bist stärker, als wir angenommen haben.‹
    ›Dann bringt mir eine Hure‹, sagte ich.
    Alle waren verstört.
    ›Nun?‹, fragte ich.
    Die Tempelhuren kreischten verzückt auf. Ich bedeutete ihnen, näher zu kommen. Aber ich war nicht in der Lage, es mit ihnen zu tun. Doch eine nach der anderen schloss ich sie in die Ar-me und drückte einen vergifteten Kuss auf ihre dankbar mir dargebotenen süßen Mäulchen, dann schickte ich sie, die einer Ohnmacht nahe waren, fort, damit sie sich den Kuss fort-wischen konnten. Wenigstens hoffte ich, dass sie das so schnell wie möglich taten. Meine Lippen blieben geschlossen, doch tief in meinem Innern lachte ich.
    Noch manches geschah in dieser Nacht, Feuer, Tänze, Balla-den gab es, doch ich schlief und sah nichts von alldem.
    Ich schlief. Zwar stand ich, doch leicht nach hinten zurückgelehnt, sodass es wirkte, als stünde ich aus eigener Kraft aufrecht. Auch hatte man meine Augenlider aufs Neue mit Gold bestrichen, sodass sie offen blieben, dennoch schlief ich.
    Die Welt schien ein Schlund des Wahnsinns. Hin und wieder kam ich zu mir, sah die Flammen und die tanzenden Gestalten. Hin und wieder drang ein Laut oder ein Flüstern an mein Ohr. Oder ich hörte Füße laufen und spürte menschliche Hän-de nach mir greifen.
    Ich glaube, einmal sah ich den König unter mir tanzen. Ich sah, wie er mit den Frauen einen langsamen Tanz vollführte, der aus merkwürdigen, zeremoniellen Figuren bestand, und dann hob der König die Arme in die Höhe und verneigte sich vor mir. Doch niemand verlangte etwas von mir. Mittlerweile war das Lächeln auf meinem Gesicht durch das aushärtende Gold erstarrt. Und nur wenn ich lachte, fühlte ich ein Prickeln auf der Haut.
    Am folgenden Tag zur Mittagszeit, während sich die Prozession zurück an den Hof von Esagila begab, war ich mir bewusst, dass ich tatsächlich langsam starb. Ich konnte mich fast nicht mehr bewegen. Die Bedienten pinselten unter dem Schutz seidener Schals und Stoffbahnen in wildem Eifer flüssiges Gold auf meine Knie, damit sie beweglich blieben. Das sollte das Volk natürlich nicht sehen. Und ich war nicht so sehr erschöpft als vielmehr gelähmt und starrte nur geradeaus vor mich hin.

    Wir erreichten die Tore ... wir kamen in den Hof, wo die erhabene Dichtung ›Der Anfang‹ rezitiert werden sollte und die Schauspieler schon auf ihren Auftritt warteten. Eine plötzliche Trauer überkam mich, entsetzliche Trauer und Verwirrung.
    Irgendetwas war nicht so, wie es sein sollte.
    Doch dann, wie als Antwort auf ein Gebet, hatte alles seine Ordnung: Ich hörte meinen Vater singen. Ich hörte ihn und meine Brüder:

    Einen Mann werde ich machen, kostbarer denn feinstes Gold; und allen Goldes Ofirs gleich.

    Ich gab mir alle Mühe, um ihre Worte, um ihre beseligenden, so vertrauten Stimmen deutlicher zu hören: So spricht der Herr zu Kyros, Seinem Gesalbten, dessen rechte Hand ich führte, damit Völker vor ihm in den Staub sänken ...

    ›Schau dort hinüber, du mein Gott Marduk‹, sagte Kyros zu mir. ›Der da aus ganzem Herzen singt, das ist dein Vater.‹ Ich drehte mich

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