Engel der Verdammten
riss ich das armselige Leinenbündel auf. Als Erstes vertraute ich dem Kasten die Tontafel an - beschriftet mit Worten, von denen ich einen Teil noch nicht einmal laut gelesen hatte -, und darauf schichtete ich vorsichtig meine Knochen.
Während ich noch damit beschäftigt war, näherte sich mir die Hure und reichte mir einen seidenen, goldfarbenen Schleier.
»Hier, bette sie darin, damit sie weich liegen‹, sagte sie. Ich nahm den Stoff und umhüllte mit ihm die Knochen, und als sie kam und mir einen weiteren Schleier reichte, diesmal purpur-rot, polsterte ich die Knochen noch sorgfältiger, damit sie, selbst wenn man den Kasten bewegte, kein Geräusch verur-sachen würden. Ich hatte sie kaum eines Blickes gewürdigt.
›Nun befiehl mir, in diese Gebeine zu fahren, Kyros‹, sagte ich. ›Sende mich hinein!‹
Kyros schüttelte den Kopf.
Marduk meldete sich. ›Asrael, du musst es selbst tun, und du musst auch selbstständig wieder daraus hervorkommen; du musst es jetzt sofort tun, sonst wird es dir nie gelingen, und du wirst nie erfahren, ob du es kannst. Dies ist der Rat eines Wesens, das selbst ein Geist ist. Wirf all die Partikelchen von dir, die deine Gestalt ausmachen, und suche die Finsternis, und wenn du nicht von selbst wieder hervorkommen kannst, so werde ich dich beschwören.‹
Der König war irritiert, da er Marduk weder hören noch sehen konnte. Abermals erwähnte er die Sieben Weisen, und tatsächlich konnte ich Männer vor der Tür hören, hörte sie flü-
stern.
›Lasst sie nicht herein, Herr‹, sagte ich. ›Weise sind Lügner; Priester sind Lügner; Götter sind Lügner!‹
›Ich verstehe, was du meinst, Asrael‹, antwortete Kyros. ›Du hast die Macht eines Engels oder eines Dämons. Doch was immer du auch sein magst, keiner von denen, die man für ge-wöhnlich als weise bezeichnet, kann dir den wahren Weg weisen.‹
Ich sah zu Marduk hinüber.
›Begib dich in diese Gebeine‹, riet er. ›Ich verspreche dir, ich werde all meine Kraft aufwenden, um dich wieder hervorzuho-len. Sieh zu, ob du dort Zuflucht finden kannst, so wie ich in meinem Standbild. Du brauchst eine Zuflucht!‹
Ich senkte den Kopf. ›Hinein in diese Gebeine, bis ich die Rückkehr selbst befehle; was Teil meiner selbst ist, harre aus in meiner Nähe, bis ich es wieder herbefehle.‹
Ein heftiger Wind bauschte die Bettvorhänge auf. Die Hure eilte zum König, und er legte wortlos die Arme um sie. Ich fühl-te mich mit einem Mal unermesslich groß und federleicht - ich stieß wahrhaftig an die getünchten Wände und die Decke und die vier Ecken des Raumes -, bis sich der Wind um mich herum verdichtete und ich einen unerträglichen Druck heulender, kreischender Seelen verspürte. ›Nein, lasst das, seid verdammt!‹, schrie ich. ›Diese meine eigenen Gebeine, sie sind meine Zuflucht. Da hinein will ich.‹
Dann Dunkelheit. Vollständige Dunkelheit und Stille. Ich trieb dahin. Nie hatte ich süßere Ruhe gekannt. Nur, war da nicht etwas, das ich nun tun sollte? Doch ich war nicht dazu in der Lage. Es ging nicht. Und dann erklang Marduks Stimme.
›Hüter der Gebeine, erhebe dich und nimm Gestalt an.‹
Genau, das war es! Das hatte ich tun sollen, und nun tat ich es. Es war wie ein tiefer Atemzug, auf den ein stummer Schrei folgte. Ich sah mich selbst, eine ganz annehmbare Nachbil-dung Asraels, neben der offenen Truhe mit den goldenen Knochen. Anfangs schien mein Körper zu flimmern, dann ver-festigte er sich. Das Gefühl, das die kühl vorbeistreifende Luft auf meinem Körper verursachte, schien mir völlig neu, wie nie zuvor gekannt.
Ich sah Kyros an, dann Marduk. Ich wusste nun, dass ich nicht die Kraft hatte, mich aus eigenem Willen wieder zu erheben, wenn ich meinen Geist in die Gebeine gesandt hatte. Doch was machte das schon? Dort gab es samtenen Schlaf. Der Schlaf, den man als Knabe schläft, wenn man auf einem Hü-
gel im warmen Gras liegt und eine leichte Brise den Körper streichelt, und es gibt nichts auf der Welt, was einen bekümmert.
›Mein König‹, sagte ich zu Kyros, ›ich bitte Euch. Ich werde mich nun wieder in die Gebeine zurückbegeben. Nehmt diese Truhe, und sendet sie zusammen mit der Tontafel zu dem Weisen nach Milet. Erfüllt mir diese Bitte, und wenn Ihr mich hintergeht, was soll's? Ich werde es nicht merken. Jemand ...
hat mich schon zuvor hintergangen, doch ich kann mich nicht mehr erinnern, wer es war ...‹
Kyros trat vor und küsste mich. Ein Kuss auf die Lippen, wie es
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