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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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mir auf den Fersen, und als ich aufschaute, sah ich, dass Marduk alles von fern her beobachtete.
    Ich drang in das Gemach des Königs ein. Kyros war im Bett mit einer wunderschönen Hure, und als er mich sah, sprang er, nackt wie er war, aus den Laken.
    ›Erkennst du mich?‹, fragte ich ihn. ›Was siehst du vor dir?‹
    ›Asrael!‹, rief er aus, und fügte dann mit echter Freude hinzu:
    ›Asrael, du hast dem Tod ein Schnippchen geschlagen, sie haben dich verschont, oh, mein Sohn, mein Sohn.‹
    Das kam so von Herzen und klang so wahrhaft ehrlich, dass ich wie betäubt war. Er kam auf mich zu, doch als er die Arme um mich legte, merkte er, dass da nichts war, dass ich nur den Anschein eines körperlichen Wesens erweckte, nur eine lockere Hülle war oder, noch weniger greifbar als das, eine Blase auf der Wasseroberfläche, so leicht, dass sie zerspringen konnte. Was sie aber nicht tat. Was ich nicht tat. Ich fühlte seine kräftigen, starken Arme um mich, ehe er sich schnell zurückzog.
    ›Doch, ich bin tot, mein König‹, sagte ich. ›Und alles, was von mir übrig ist, ist in diesem Bündel hier, mit Gold bedeckt. Nun gib mir meinen Lohn.‹
    ›Und wie, Asrael?‹, fragte er.
    ›Wer ist der größte Magier der Welt? Du, Kyros, weißt das doch sicherlich. Lebt der mächtigste und weiseste aller Weisen in Persien? Oder in Ionien? Oder gar in Lydien? Sage mir, wo ich ihn finde. Ich bin ein Scheusal! Selbst Marduk fürchtet mich nun! Wer ist der weiseste Mann, Kyros? Wem würdest du deine eigene, verfluchte Seele anvertrauen, wenn du an meiner Stelle hier stündest?‹
    Kyros ließ sich auf den Rand des Bettes niedersinken. Die Hure, die sich derweilen mit den Laken bedeckt hatte, starrte nur staunend. Lautlos betrat Marduk den Raum, und obwohl sein Antlitz nicht mehr diesen kalten Ausdruck des Argwohns trug, fehlten darauf doch die freundschaftlichen Gefühle, die uns früher verbunden hatten.
    ›Ich weiß, wer in Frage kommt‹, sagte Kyros. ›Von allen Magiern, die je vor meinen Thron traten, war er der Einzige, in dem sich die Schlichtheit der Seele mit wahrer Macht vereinigte.‹
    ›Schicke mich zu ihm. Ich sehe doch menschlich aus, nicht wahr? Ich sehe doch wie ein Lebender aus? Schicke mich zu ihm.‹
    ›Das will ich tun‹, antwortete Kyros. ›Er lebt in Milet, in der be-rühmten griechischen Hafenstadt; dort durchstreift er tagtäglich die Märkte und kauft Manuskripte aus aller Welt. Er versucht, Wissen, Erkenntnisse zu erwerben. Er sagt, der Zweck des Lebens sei, zu erkennen und zu lieben.‹
    ›Du sagst also, dass er ein guter Mensch ist?‹
    »Brauchst du nicht einen guten Menschen?‹
    ›Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht‹, gab ich zu-rück.
    ›Was ist mit jemandem aus deinem eigenen Volk?‹
    Die Frage verwirrte mich. Innerhalb einer Sekunde spulte sich eine Liste von Namen m meinem Kopf ab samt den Gerüchen von Haut und Haaren, und dann plötzlich konnte ich mich an keine dieser Personen mehr erinnern. »Mein eigenes Volk?
    Habe ich überhaupt ein eigenes Volk?‹ Verzweifelt durchforschte ich meine Erinnerungen, versuchte meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Wie war ich in diesen Raum gelangt? Ich erinnerte mich an einen Kessel. Ich erinnerte mich an dieses Weib, aber wie war doch gleich ihr Name? Und an den Priester, den ich umgebracht hatte. Und der Gott, der gute, freundliche Gott, der für den König unsichtbar dort drü-
    ben stand? Wer war er?

    »Du bist Kyros, König von Persien und Babylonien, Herrscher über die Welt‹, sagte ich. Ich war entsetzt, weil mir nicht einmal mehr die Namen meiner Angehörigen einfielen, denn ganz gewiss hatte ich sie vor ein paar Sekunden noch gewusst. Und diese Alte, die gestorben war, ich hatte sie doch mein ganzes Leben lang gekannt! Ich schaute verwirrt im Raum umher.
    Geschenke häuften sich darin, Gaben der vornehmsten Familien aus ganz Babylonien. Mein Auge fiel auf einen Kasten aus Zedernholz und Gold, nicht sehr groß. Ich ging hin und öffnete den Deckel. Darin waren Teller und Becher. Der König beobachtete mich schweigend. Seine Furcht sorgfältig verber-gend, sagte er: »Du kannst das haben, wenn du willst.
    Erlaube, dass ich meine Sieben Weisen zu mir rufe.‹
    »Ich brauche nur diese kleine Truhe‹, sagte ich und leerte den kostbaren Inhalt vorsichtig aus, damit nichts beschädigt würde.
    Ich hielt den Kasten in der Hand, konnte den Duft des Zedernholzes durch das rotseidene Futter hindurch riechen. Dann

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