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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Ecke zurückgezogen; der Gott schaute nur. So gut ich konnte, las ich die Worte von der Tafel ab:
    ›Und da er seinen Tod mit angesehen hat, und da er gesehen hat, wie sein Fleisch, wie sein Geist und seine Seele in den Knochen aufgegangen sind, auf ewig versiegelt im Gold dieser Gebeine, so banne ihn in diese Gebeine, zwinge ihn, in sie hineinzufahren und darin auszuharren, bis sein Meister ihn hervorrufe.‹
    ›Gehorche‹, schrie Remath, ›fahre hinein in die Knochen!‹ Ich senkte meinen Blick wieder auf die Tontafel und las weiter.
    ›Und wenn alle Knochen beisammen sind, wird sein Geist in Ewigkeit darin gefangen sein, von Generation zu Generation, dem Meister zu dienen, der sie besitzt und der die Macht hat, auf dass er tue nach des Meisters Geheiß und wandle nach des Meisters Willen. Sagt der Meister »Komm«, wird der Hüter der Gebeine erscheinen. Sagt der Meister »Kleide dich in Fleisch«, wird der Hüter der Gebeine sich einen Körper schaffen, und sagt der Meister »Fahre zurück in die Gebeine«, so wird der Hüter der Gebeine gehorchen. Und sagt der Meister
    »Töte mir diesen Mann«, wird der Hüter der Gebeine dies tun, und sagt der Meister »Halte dich ruhig und wache, mein Sklave«, so wird der Hüter der Gebeine auch dies tun. Denn der Hüter und die Gebeine sind nun eins. Und kein Geist unter dem Himmel kommt an Stärke dem Hüter der Gebeine gleich.‹
    ›Na‹, sagte ich, ›das ist ja eine tolle Geschichte.‹
    ›In die Gebeine‹, verkündete Remath. ›Fahre in die Gebeine.‹
    Dabei stand er zitternd da, mit gebeugten Knien und geballten Fäusten. ›Fahre zurück in die Gebeine!‹, dröhnte er abermals.

    ›Halte dich ruhig und wache, mein Sklave!‹
    Ich tat nichts dergleichen.
    Eine ganze Weile musterte ich ihn eindringlich. Nichts in mir veränderte sich.
    Mir fiel das Tuch ins Auge, das er von dem Ruhebett gezerrt hatte. Es war ein frisches Laken, aufgezogen, nachdem ich hier geschlafen hatte, und nun hob ich es auf, formte einen Beutel daraus und legte zuerst die Tontafel hinein, dann die Knochen. Ich nahm den Oberschenkelknochen und den Un-terschenkelknochen, die Knochen der Arme und dann den Schädel, meinen eigenen Schädel, der noch heiß war und im Glanz des Goldes erstrahlte, und so sammelte ich jedes winzige Teilchen dessen auf, was ich zuvor gewesen war, ich, Asrael, der lebendige Mensch, der Tor, der Idiot. Ich sammelte die Zähne auf und auch die Zehenknochen. Und als das alles in diesem kleinen Bündel zusammenlag, verknotete ich es und warf es mir über die Schulter. Und dann wandte ich mich wieder Remath zu.
    ›Fahre zur Hölle!‹, brüllte er. ›Hinein in die Gebeine mit dir!‹
    Ich ging auf ihn zu, griff mit der rechten Hand nach ihm und brach ihm das Genick. Er war tot, ehe er noch in die Knie gesunken war. Ich sah einen Geist aus seinem Körper aufsteigen, verwirrt und erschreckt; er war hauchzart, wurde schnell formlos, löste sich dann auf und war verschwunden.
    Ich richtete meinen Blick auf Marduk.
    ›Asrael, was hast du vor?‹, fragte er. Er schien völlig durcheinander.
    ›Was kann ich tun, Herr? Was bleibt mir denn anderes übrig, als den größten Magier in Babylon zu finden, den einen, der stark genug ist, mir mein Geschick und meine Grenzen aufzu-zeigen? Soll ich denn einfach davongehen, so wie ich jetzt bin? Ich bin nichts, du siehst es doch, nichts, nur der Ab-klatsch eines Lebenden. Soll ich so davongehen ? Sieh mich an, ich bin Materie und sichtbar, doch eigentlich bin ich nichts, und alles, was von mir blieb, ruht in diesem Bündel hier.‹
    Ich wartete keine Antwort ab, sondern wandte mich um und ging. So gesehen, wandte ich mich damit auch von ihm ab.
    Entließ ihn, traurig, scheint mir, und grob von mir und gedan-kenlos, und ich hatte ein Gefühl, als verweile er zögernd in meiner Nähe und beobachte mein Fortgehen.
    In der durchaus überzeugenden Gestalt eines Mannes schritt ich durch den Tempel, sodass ich wieder und wieder von Wachen aufgehalten wurde, die ich einfach mit der rechten Hand fortstieß. Ein Speer bohrte sich in meinen Rücken, ein Schwert schnitt durch meinen Körper. Ich spürte nichts davon, sondern betrachtete nur die verblüfften, unglückseligen Angreifer und ging einfach weiter.
    Ich betrat den Palast und begab mich zu den Gemächern des Königs. Seine Wachen fielen über mich her, doch ich ging einfach durch sie hindurch, was mir kaum mehr Gefühle als ein leichtes Schaudern verursachte. Stolpernd blieben sie

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