Engel der Vergessenen
Wehwehchen drückten. Chin-hao-Chin, der Hauswirt, hatte alle Mühe, den Wartenden wortreich zu erklären, daß er als Gastgeber das Recht habe, als erster untersucht zu werden.
Dr. Haller und Siri wuschen sich schnell, deckten das Bett mit einem Laken zu, rückten einen Korbsessel an das Fenster, stellten eine Schüssel mit Wasser daneben, und fertig war das Ordinationszimmer.
»Aufmachen!« schrie Chin-hao-Chin wieder. »Kommen immer mehr Leute! Sollen sie auf Straße stehen?«
Siri schloß die Tür auf und nickte freundlich dem dicken Chinesen zu. Er hatte schon den Oberkörper freigemacht und wartete halbnackt dicht vor der Tür, weil die anderen Wartenden die Treppe hinauf drängten.
»Der erste Patient«, sagte Siri strahlend. »Bitte eintreten. Nicht so drängeln, meine Herren! Jeder wird untersucht.«
»Für 10 Kyat? Stimmt das?« brüllte jemand von unten im Flur.
»Es stimmt.«
Sie ließ Chin-hao-Chin ins Zimmer und schloß hinter ihm ab. Dr. Haller zeigte auf den Korbsessel am Fenster.
»Nur Ruhe«, sagte Dr. Haller. Er verstand die Aufregung des fetten Mannes, legte ihm die Hand auf die Schulter und glitt wie zufällig die linke Halsseite hinauf, bis er den Knoten unter seinen Fingern fühlte. Ein runder, gut abgegrenzter, unter der Haut liegender Knoten ohne Verbindung zu tieferen Geweben.
»Kein Problem«, sagte Dr. Haller zufrieden. Er war froh, gleich bei Chin-hao-Chin einen Fall zu haben, der medizinisch geradezu lächerlich war, mit dem man aber sichtbar Erfolg haben konnte, wenn man es geschickt und mit einigem Sinn für Dramatik anstellte.
»Was?« fragte Chin-hao-Chin.
»Ihr Knoten«, antwortete Dr. Haller.
»Untersuchung schon fertig?« Chin-hao-Chin war sichtlich enttäuscht. Er blieb in dem Korbsessel sitzen und stützte die Arme auf seine dicken Oberschenkel. »Sie haben Knoten gar nicht untersucht!«
»Schon erledigt. Es ist ein Grützbeutel.«
»Ein was?« Chin-hao-Chin sprang auf.
»Ihnen das zu erklären, wäre zu kompliziert«, sagte Dr. Haller. Die große Schau begann: die Vorstellung des allwissenden Medizinmannes. Er strich noch einmal über den dicken Grützbeutel, faßte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und war sich klar, daß, mit örtlicher Betäubung, die ganze Sache in zehn Minuten zu beheben war. Ein Kreuzschnitt, Herausnehmen der Grütze, ein paar Hautnähte, ein Pflaster – Ende. Aber für Chin-hao-Chin lag der Fall noch nicht so klar.
»Nicht gefährlich?« fragte er fast kindlich. Seine runden Augen blickten Dr. Haller zweifelnd an.
»Gar nicht gefährlich.«
»Kein Krebs?«
»Grütze ist kein Krebs, Chin-hao-Chin.«
»Und was tun?«
»Einfach wegschneiden. In zehn Minuten ist alles vorbei.«
»Schneiden?« Chin-hao-Chin legte beide Hände über den dicken Grützbeutel. »Womit? Und tun sehr weh?«
»Genau darüber möchte ich mich mit Ihnen unterhalten.« Dr. Haller setzte sich dem Dicken gegenüber auf einen Hocker, den ihm Siri hinschob. Jetzt kamen wichtige Minuten, die für die Zukunft bestimmend waren. »Ich brauche die Instrumente und einige Grundmedikamente. Mit den blanken Fingern allein kann ich nicht operieren.«
Chin-hao-Chins Kinderaugen wurden weit, er stand stöhnend auf und hielt sich weiter an seinem Grützbeutel fest.
»Ich brauche Skalpelle, Klemmen, Pinzetten, Nadeln, Nadelhalter, Seide, Katgut, Wundhaken, Quetschen, Katheter, Spritzen, Äthermasken. Mein lieber Chin-hao-Chin, das ist ein langer Katalog, so lang wie eure Papierschlangen beim chinesischen Neujahrsfest.«
»Und alles wegen Grützbeutel?«
»Zum Teil. Aber ich habe kein Geld!« Dr. Haller sah zu dem Dicken hinauf, der keuchend vor innerer Erregung gegen die Decke starrte. »Leihen Sie es mir! Ich operiere Sie umsonst! Ich zahle Ihnen den Kredit Kyat für Kyat zurück. Von jedem Honorar bekommen Sie die Hälfte, bis alles beglichen ist!«
»Für jeden Patienten 5 Kyat?« Chin-hao-Chin trat ans Fenster und blickte in seinen schmutzigen Hinterhof. Der Abfall stank, der angebrannte Reis lag obenauf, die Sonne schien auf die Ratten, die fröhlich im Müll spielten. Chin-hao-Chin rechnete – darin übertraf er alle. 5 Kyat für jeden Kranken, dazu die Möglichkeit, daß man die untersuchten Patienten durch das Lokal ins Freie leiten konnte, wobei immer ein paar Kyat für Getränke hängenbleiben würden, denn ein Arztbesuch macht Durst, vor allem, wenn man von der Angst befreit worden ist. Das konnte ein müheloses Geldverdienen werden.
»Wieviel brauchen Sie?«
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