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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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fragte er.
    »Ungefähr 2.000 Kyat.«
    »Er ist verrückt!« schrie Chin-hao-Chin und warf die Arme hoch. »Er ruiniert mich! 2.000 Kyat! Woher nehmen?«
    »Dann laß dich von deinem Grützbeutel auffressen!« sagte Haller hart.
    Chin-hao-Chin wankte hinaus. Im Flur und auf der Treppe machte man ihm ehrfürchtig Platz. Man soll einen Sterbenden höflich behandeln. Chin-hao-Chin verstand die mitleidigen Blicke sofort.
    »Ich sterbe nicht!« brüllte er und rannte die Treppe hinunter, so schnell es sein massiger Körper zuließ. »Ich habe nur Grützbeutel! Nur Grütze! Ich bin gesund! Deutscher Doktor wird mich operieren!«
    Er schwankte in seine Privaträume, ließ sich dort in einen Sessel fallen und streckte Arme und Beine von sich, wie in totaler Erschöpfung.
    Eine Stunde lang rang Chin-hao-Chin mit sich und seinem Geld. Dann zog er einen seidenen Mantel an, sein Festtagsgewand, mit dem er immer in die Pagode ging, um den Ahnen ein paar ausgesuchte Räucherstäbchen zu verehren, kämmte sein strähniges Haar und erschien wieder an der Treppe.
    Die Schlange der Wartenden war nicht kleiner geworden.
    »Macht Platz!« schrie jemand.
    »Er hat sich schon zum Sterben eingekleidet. Platz für einen lieben Toten!«
    »Ich sterbe nicht!« schrie Chin-hao-Chin.
    Er riß die Tür zu Dr. Haller auf.
    »Wieviel Kranke schaffen Sie am Tag, Doktor?« fragte er und begann wieder heftig zu schwitzen.
    »Wenn's so weitergeht wie heute – hundert!« Dr. Haller beendete die Untersuchung eines alten Mannes. Hier war nichts mehr zu tun. Bei dem desolaten Zustand des Mannes stand eine Operation nicht mehr zur Debatte.
    »Was wollen Sie noch hier?« schrie Dr. Haller den schweratmenden Chin-hao-Chin an, während er sich die Hände wusch.
    »Dann sind es nur vier Tage, und ich habe mein Geld wieder?« sagte der Dicke tonlos.
    »Vier oder fünf – natürlich!«
    »Ich gebe Geld!« Chin-hao-Chin griff in die Tasche seines wertvollen Seidenmantels und holte einen Packen Geldscheine heraus. »Hier! Nehmen Sie, Doktor! Wann mich operieren?«
    »Morgen nachmittag um drei!« Siri nahm das Geld aus Chin-hao-Chins Hand und steckte es vorn in die Bluse. »Der nächste bitte! Halt! Noch eins!« Chin-hao-Chin blieb stehen, als halte ihn ein Drahtseil an den Haaren fest. »Daß Sie eine massive Fettleber haben und einen völlig gestörten Fettstoffwechsel, das ist Ihnen doch klar? Das macht mir mehr Sorge als Ihr Grützbeutel!«
    »Viel Sorge?«
    »Ja!«
    »Ich gebe Ihnen 3.000 Kyat, Doktor!« rief Chin-hao-Chin.
    Am nächsten Vormittag blieb die ›Praxis‹ geschlossen. Nur Chin-hao-Chin machte ein blendendes Geschäft. Er tröstete die enttäuschten Kranken in seinem Lokal, verkaufte Bier und Reisschnaps und gab um die Mittagszeit ein Einheitsessen aus: Reis, Hühnerklein und eine scharfe Chilisoße – und räumte damit alle Reste aus seiner Küche, denn das Hühnerklein wurde aus den nicht aufgegessenen Portionen vom Vortag angerichtet.
    Fünf Stunden liefen Siri und Dr. Haller durch Rangun und kauften ein. In dem einzigen Geschäft für Praxisbedarf handelten sie zwei Stunden lang die Preise herunter, und vier Apotheker fanden sie, die Hallers Rezepte einlösen würden, auch wenn sie nur auf einfaches Papier geschrieben waren.
    Um zwei Uhr mittags kehrten sie zum ›Roten Drachen‹ zurück. Vier Kollegen des Taxifahrers trugen Kartons und Kisten voller Instrumente und Medikamente ins Haus und schleppten sie nach oben.
    Pünktlich um drei klopfte Chin-hao-Chin an Hallers Tür. Er trug ein altchinesisches Seidengewand mit den Symbolen des Todes. Siri öffnete ihm und winkte stumm.
    Dr. Haller stand neben einem zusammenklappbaren mobilen OP-Tisch, den er auf Anzahlung gekauft hatte. Chin-hao-Chin war es unmöglich, ein Wort herauszubringen. Der Anblick des Doktors in seiner Gummischürze entsetzte ihn.
    »Kommen Sie rein!« sagte Haller. »Ziehen Sie Ihren Seidenrock aus und legen Sie sich auf den Tisch. Auf die rechte Seite. Sie werden gar nichts spüren. Sie bekommen eine Lokalanästhesie, und dann schälen wir Ihnen Ihren Grützpudding aus dem Hals. Wenn Sie außer dem ersten Einstich der Spritznadel noch etwas spüren, dürfen Sie mich totschlagen!«
    »Das mache ich, Doktor!« sagte Chin-hao-Chin mühsam. Er kam langsam näher, wälzte sich auf den Tisch und streckte sich aus. Wie eine Gans, die man ausweidet, dachte er und begann zu stöhnen.
    Dr. Haller beugte sich über ihn. Er strich das Operationsgebiet mit Jod ein und streckte dann

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