Engel der Vergessenen
sich die Katzen, Chin-hao-Chin briet Nieren, der Geruch von dampfendem Urin zog penetrant die Hauswand empor und drang selbst ins Zimmer, als Haller das Fenster schloß. Dadurch wurde es unerträglich heiß im Raum, sie lagen nackt und schwitzend nebeneinander auf dem breiten Bett, hörten durch den Dielenboden das Stimmengemurmel im Lokal unter ihnen und starrten auf die gelb gestrichene Decke, über die das Zucken einer benachbarten Lichtreklame lief.
»Ich werde doch tanzen«, sagte Siri einmal in dieser langen Nacht.
»Wenn du das tust, verkaufe ich mich stundenweise an lüsterne Damen!«
»Du bist böse, Chandra.«
»Verdammt nein! Ich liebe dich, Siri.«
»Glaubst du, daß Patienten kommen?«
»In Rangun gibt es einige tausend Taxifahrer und Rikschazieher. Das ist ein ungeheures Patientenpotential. Für 10 Kyat gesund zu werden – wo wird das schon geboten?«
»Und womit willst du untersuchen?«
»Mit zehn Fingern. Das genügt!«
»Und behandeln?«
»Mit Worten. Auch das genügt. Dazu ein Schreibblock und ein Bleistift.«
»Die anderen Ärzte werden dich totschlagen, Chandra.«
»Das warten wir ab. Übermorgen melde ich mich im Gesundheitsministerium.«
»Willst du abgeschoben werden, Chandra?«
»Zunächst müssen sie mich dort anhören.«
»Sie werden dich nicht zu Wort kommen lassen.«
»Auch gut – dann praktiziere ich hier weiter.«
»Dazu brauchst du eine staatliche Konzession.«
»Nach vier Wochen muß ich so viel Kyat haben, um den maßgebenden Beamten einen knisternden Händedruck zu geben. Verlaß dich drauf, Siri: Ich werde eine Konzession bekommen!«
Dann schwiegen sie wieder.
Die Kater vor dem Fenster mußten gut im Training sein. Das Kreischen der Katzen hörte nicht auf. Chin-hao-Chin hatte seine Küche geschlossen, der Uringestank der Nierchen ließ nach. Auch die Lichtreklame stellte ihr Zucken ein – anscheinend wurde es bald Morgen.
Siri schlief endlich, zusammengerollt wie eine Katze. Ihr nackter Körper glänzte von Schweiß. Leise stand Haller auf, ging zum Fenster, öffnete es lautlos und nahm den Geruch der Abfälle in Kauf, um die stickige Luft hinauszulassen. Dann lehnte er sich aus dem Fenster und sah den fleißigen Katern zu. – Was wollte er in Rangun?
Sich rehabilitieren? Nach Gerechtigkeit schreien? Dr. Karipuri und Donu Taikky zur Strecke bringen? Oder sich eine Plattform schaffen, um Rache für Bettina zu nehmen?
Bettina …
Er starrte in den dunklen Hof, er sah ihre blonden Haare, ihr frisches, offenes Mädchengesicht, ihren kräftigen, gesunden, nach Jugend duftenden Körper.
Jetzt ist sie schon längst in Hamburg, und Nongkai bleibt zurück als schreckliche Erinnerung, als ein Ausflug in die Hölle. Welche Rolle spielt darin der Doktor Haller? Verblaßt auch die Erinnerung an ihn?
Bettina …
Dr. Haller stieß sich vom Fenster ab, ging zum Bett zurück und setzte sich neben die schlafende, nackte Siri. Ihr schöner brauner Leib hatte sich gestreckt, die Brüste zitterten unter dem gleichmäßigen Atem.
»Mein Tierchen«, sagte er leise und strich ihr vorsichtig über die schweißnasse Stirn. Sie spürte es im Schlaf und streckte sich noch mehr. In den Lippenwinkeln nistete sich ein kaum merkliches Lächeln ein. »Wir müssen so schnell wie möglich heiraten.«
Er blieb bei ihr sitzen, bis der Himmel fahl und streifig wurde und der Morgen über Rangun kroch. Da legte er sich neben sie und schlief sofort ein. Aber noch im Einschlafen dachte er: Es riecht nach verbranntem Reis, Chin-hao-Chin! Einem guten Koch brennt kein Reis an.
Er wachte auf, weil jemand an die Tür klopfte. Auch Siri schrak hoch.
»Zum Teufel, was ist los?« schrie Haller. »Ich will noch schlafen!«
»Nicht mehr schlafen, deutscher Doktor!« Chin-hao-Chin hämmerte weiter gegen die Tür. »Aufstehen! Arbeiten! Auf Treppe stehen zehn Patienten. Aber ich komme zuerst dran! Ich habe Knoten an linker Seite von Hals …«
Dr. Haller dehnte sich und drückte Siri an sich. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchrann ihn: zehn Patienten!
»Das Leben beginnt, Siri!« sagte er und schämte sich seiner unsicheren Stimme nicht. »Mein Gott! Das Leben beginnt …«
Auf der Treppendiele und die Treppe hinunter bis zum Eingangsflur warteten die Patienten. Der Taxichauffeur hatte an jedem Halteplatz, den er in der vergangenen Nacht anfuhr, seinen Kollegen von dem deutschen Arzt erzählt, der für 10 Kyat bereit war, einen Kranken zu untersuchen. Nun war jeder gekommen, den
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