Engel der Vergessenen
die Hand zur Seite. Sofort lag die Spritze mit dem Anästhesiemittel zwischen seinen Fingern.
Welch ein Aufwand wegen eines dämlichen Grützbeutels, dachte Haller. Dazu hätte ich sonst einen Chloräthyl-Spray genommen und die Stelle kurz vereist. Ein simpler Hautschnitt, nichts weiter. Aber Chin-hao-Chin soll das Gefühl haben, als gehe es jetzt um Leben oder Tod. Er schämte sich, als Arzt eine solche Komödie aufzuführen, aber wenn er bedachte, was alles von diesem Tag abhing und welches Ziel er sich gesteckt hatte, war ein bißchen Scharlatanerie, die keinem schadete, schon verzeihlich.
»Was ist das?« fragte Chin-hao-Chin mit sterbender Stimme.
»Scandicain.«
»O ihr Ahnen!« Chin-hao-Chin schloß die Augen. »Doktor, ich sterbe!«
»Es genügt, wenn Sie sich nicht in die Hosen machen! Achtung! Jetzt kommt der Nadelstich, und dann ist alles vorbei.«
Die Operation war lächerlich einfach. Ein schneller Schnitt, Aushebung des Atheroms, die Naht aus drei Stichen – fertig.
Dr. Haller ließ Chin-hao-Chin auf dem Tisch liegen, küßte Siri auf den Mund und zog die Gummihandschuhe aus. Dann klebte Siri ein großes, mit Mull unterlegtes Pflaster auf die Wunde und warf Skalpell und Nadelhalter samt Nadeln in den zischenden Sterilisator.
Chin-hao-Chin lag unbeweglich, ein ausgebleichter Baumstamm. Er öffnete erst die Augen, als Haller ihm auf das breite Gesäß klopfte und sagte: »Wollen Sie auf dem OP-Tisch übernachten?«
»Fangen Sie endlich an, Doktor!« seufzte Chin-hao-Chin.
»Zum Teufel, ich bin längst fertig!«
Chin-hao-Chin tastete nach seiner Halsseite, fühlte das Pflaster und darunter flaches Fleisch. Mit einem Aufschrei sprang er vom Tisch und warf sich gleich nebenan in den Korbsessel.
»Weg!« schrie er. »Weg! Weg! Doktor! Sechs Jahre habe ich es herumgetragen! Und nun ist es weg! Doktor! Sie können zaubern.«
»Wollen Sie die Grütze sehen?« fragte Haller und hob die emaillierte Schale hoch. Chin-hao-Chin schlug beide Hände vor die Augen.
»Nein! Nein! Sechs Jahre! Und Sie brauchen fünf Minuten!«
»Neun Minuten, einschließlich Narkose. Und jetzt zu Ihrer Fettsucht! Das ist alles angefressen, mein Lieber! In vier Wochen sind Sie dreißig Pfund leichter, das verspreche ich Ihnen.«
»In vier Wochen sind Sie der größte Arzt von Rangun!« schrie Chin-hao-Chin, sprang auf, küßte Dr. Haller, küßte Siri und drückte dann beide an sich, wie ein Vater seine zurückgekehrten, vermißten Kinder. »Der größte Doktor von Birma!«
Es dauerte keine vier Wochen.
Wunder für 10 Kyat sprechen sich schnell herum.
Es begann damit, daß ein Bote des Gesundheitsministeriums einen Brief abgab.
Vorladung zum Minister persönlich.
Das konnte eine erfreuliche Entwicklung nehmen. Haller war voll Zuversicht.
Aber andere Leute waren auch nicht untätig. In die wartende Patientenschar mischten sich drei Spione: birmesische Ärzte.
Dr. Haller erkannte sie sofort, auch wenn sie sich mit großer schauspielerischer Fähigkeit verstellten, in ärmlichster Kleidung geduldig auf der Treppe unter den anderen warteten und sich vier Tage nicht rasiert hatten.
Wie sie sich im Zimmer umsahen, die Instrumente mit Blicken begutachteten und jeden Handgriff Doktor Hallers kritisch beobachteten, das war so eindeutig, daß Haller verhalten lächelte und seinen Kollegen nach einer gründlichen Untersuchung eine so präzise Diagnose stellte, daß sie ihn verwundert anstarrten.
Einer von ihnen hatte eine deutlich tastbare vergrößerte Milz, der andere eine chronische Bronchitis.
»Sie sind ein Opfer der Klimaanlage«, sagte Haller gemütlich. »So wohltuend bei dem höllischen Klima Ranguns ein stets wohltemperierter Raum ist – der dauernde Temperaturwechsel, der ständige Luftzug macht den Organismus mürbe. Außerdem haben die Amerikaner festgestellt, daß durch die Klimaanlage haufenweise Bakterien ins Zimmer geblasen werden. In vollklimatisierten OP-Räumen hat es dadurch schon Infektionstote gegeben. Ich rate Ihnen, sich für Ihre Praxis eine andere Kühlung auszudenken, sonst kriegen Sie die Bronchitis nie los, Herr Kollege.«
Der bärtige Birmese in der zerlumpten Kleidung eines Rikschafahrers blickte Haller stumm an, drehte sich brüsk um und verließ wortlos das Zimmer.
Der dritte Arztspion verriet sich, indem er sich für eine Blasensteinuntersuchung fachgerecht auf dem OP-Tisch zurechtlegte. Da kein urologischer Stuhl vorhanden war, wußte er genau im voraus, wie man sich behelfen
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