Engel der Vergessenen
zu fliegen, um die Therapie unter Kontrolle zu halten.
Chin-hao-Chin lief seit zwei Wochen herum und klagte Himmel und Hölle an, nachdem er erfahren hatte, daß Haller zurück nach Nongkai ging. Als Siri Koffer kaufte und Kleider- und Wäschehändler ihre Pakete im ›Roten Drachen‹ ablieferten, legte sich Chin-hao-Chin ins Bett, deckte sich bis zum Hals zu und begann grausam zu stöhnen.
»Ich sterbe, Doktor!« wimmerte er, als Haller sich auf die Bettkante setzte. Der Schweiß rann Chin-hao-Chin in Strömen über das dicke Gesicht, aber er zitterte heftig, als durchjage ihn ein fürchterlicher Schüttelfrost. »Ich bin kalt wie aus Eis! Ich klappere mit den Zähnen. Hören Sie, Doktor?«
Er begann schaurig die Zähne aufeinander zu schlagen, und das klang so echt, daß selbst Chin-hao-Chin ergriffen war und Haller entsetzt anstarrte. »Ich friere, Doktor!« wimmerte er. »Ich bin ein todkranker Mann! Sie können nicht fahren nach Nongkai! Wollen Sie einfach zurücklassen todkranken Chin?« Dr. Haller deckte den dampfenden Chin-hao-Chin auf und setzte das Stethoskop auf seine röchelnde Brust. Er überspielte damit die Rührung, die ihn überkam.
»In Nongkai warten jetzt siebenhundert Kranke auf mich, Chin«, sagte Haller. Er rollte die Schläuche des Membran-Stethoskops zusammen und steckte es in die Rocktasche. »Siebenhundert Menschen, die lebendig verfaulen! Und es werden immer mehr kommen, wenn sich herumspricht, daß die Lepra keine Geißel Gottes ist, sondern eine Krankheit wie tausend andere, gegen die es jetzt Mittel gibt. Alle, die sich bisher versteckten mit ihren Knotengesichtern und geschwürigen Händen und Zehen, mit ihren Nervenlähmungen und ihrer Auszehrung, werden zu mir kommen!«
»Aber sie frieren nicht, Doktor!« stöhnte Chin-hao-Chin. »Bleiben Sie hier! Bitte! Ich brauche Sie, und alle Leute in Rangun brauchen Sie! Wer soll die Armen behandeln? Für 10 Kyat? Sie sind der Engel für uns alle …«
»Verdammt, laßt doch die Engel weg! Ich kann das nicht mehr hören!« Haller stand auf, riß Chin-hao-Chin die seidenbezogene Steppdecke weg und zog seine Jacke aus. Sofort stellte Chin-hao-Chin das Jammern ein und starrte erwartungsvoll Haller an. »Ich hatte einmal einen Patienten, der klagte über chronische Schmerzen in der Schulter. Er war Direktor einer chemischen Fabrik, verdiente sich dumm und dusselig durch Patente und Erfindungen und legte sich als Spielzeug eine ausgewachsene Hysterie zu: Schmerzen in der Schulter! Damit belagerte er jeden erreichbaren Arzt, blockierte Betten in den Sanatorien, machte das Krankenhauspersonal verrückt, tyrannisierte seine Umwelt. Er war der kränkste Mann der Welt.«
»Nein, Doktor!« rief Chin-hao-Chin dazwischen. »Kränkste Mann der Welt bin ich!«
»Dieser arme reiche Mann kam auch zu mir! Man hatte mich schon vor ihm gewarnt. Ich habe ihn erst gar nicht untersucht, sondern auf den Bauch gelegt, meinen Kittel ausgezogen und ihm so lange auf die Schulter geschlagen, bis er aufsprang und sagte: ›Danke, Doktor! Ich bin gesund!‹« Dr. Haller krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch. »Und nun zu Ihnen, Chin, und Ihrem erschreckenden Schüttelfrost. Dem Körper fehlt abwehrende Wärme. Ich werde sie Ihnen hineinprügeln …« Chin-hao-Chin nickte, streckte sich aus und ergab sich völlig seinem Schicksal. »Prügeln Sie, Doktor!« sagte er mit weinerlicher Stimme. »Machen Sie mich tot. Aber bleiben Sie bei mir! Ob Nongkai oder Rangun – wir alle brauchen Sie.«
Haller beugte sich über Chin-hao-Chin, gab ihm einen freundschaftlichen Backenstreich und verließ dann das Schlafzimmer.
Sie brauchen mich. Gibt es einen schöneren Satz auf dieser Welt?
Im Ankleidezimmer von Chin blieb er stehen und betrachtete sich in dem mannshohen Spiegel. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, das Gesicht war zerklüftet und hohlwangig. Als er nahe an den Spiegel herantrat, erschreckte ihn die Stumpfheit seines Blicks.
»Altes Biest –«, sagte er zu seinem Spiegelbild, »ich weiß, du hast nicht mehr viel Zeit! Aber halte noch ein paar Monate durch, vielleicht ein Jahr, du verdammter Kerl, nur ein lächerliches kurzes Jahr. Es ist viel, was ein Mensch in einem Jahr erreichen kann … Hörst du? Nur ein Jahr …«
Oben wartete Siri auf ihn. Sie saß vor offenen Koffern in einem Haufen von Kleidern und Wäsche und hatte mit dem Packen begonnen.
»Morgen fliegen wir!« sagte Haller und warf sich auf das Bett.
»Morgen? O Chandra! Ich werde die Sonne
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