Engel der Vergessenen
Sumpf, das Brausen des über die Ufer getretenen Nongnong, das Rauschen des Windes in den Riesenbäumen, das Knacken der Bambusstreben seiner Hütte, der ruhige Atem Siris, der über seine Brust strich.
»Gott, laß mich noch etwas leben!« sagte er.
Es war der längste Gedanke, den er bisher an Gott verschwendet hatte.
An der Kirche von Nongkai wurde noch gearbeitet. Dreißig Männer erhöhten den Turm und zimmerten ein Gerüst, an dem die von Dr. Haller mitgebrachte Glocke für die Weihe aufgehängt werden sollte.
Das Hämmern hallte weit über das stille Dorf und klopfte Haller endlich in den Schlaf.
Die Glockenweihe sollte zwei Tage später stattfinden. Den Wettlauf zwischen der christlichen und der buddhistischen Gemeinde schien dieses Mal der Prediger Manoron zu gewinnen: Eine richtige Glocke, die weit über Nongkai hinweghallen würde, bis hinein in den Dschungel und die mit Urwald überwucherten Hügel, hatten die Buddhisten nicht zubieten. Zwar übte der Mönch seit drei Tagen an seinem großen Bronzegong und ließ ihn viermal täglich dröhnen, aber gegen eine Glocke kam er nicht an. Das war allen klar. Ganz kampflos jedoch wollten die Buddhisten den großen Tag der Christen nicht hinnehmen. Und so hockten sowohl in der Kirche wie auch in der Pagode mehrere Spione herum und meldeten in Abständen, was sich da hinter verschlossenen Türen zu Ehren Gottes alles tat.
Manorons Kirchenchor übte Choräle und fröhliche Folklore-Gesänge. Die Buddhisten begannen Bettücher orangegelb einzufärben und daraus große Fahnen zu schneidern. Aus den Reihen von Donyans Soldaten stellten sich sechs christliche Blechbläser zur Verfügung, die das Fest mit markigem Trompetenschmettern verschönern wollten. Die Buddhisten zogen gleich und stellten eine Musik aus Handtrommeln und Rohrflöten, selbstgefertigten Streichinstrumenten und Glöckchenspielen zusammen.
Es war abzusehen, daß Nongkai ein rauschendes Fest erleben würde.
Jeden Morgen versammelte Dr. Haller seine Ärzte um sich und ließ sich berichten. Nongkai war nun so groß geworden, daß er nicht mehr in jede Hütte gehen, bei den Kranken auf ein paar Worte bleiben, sich die kleinen und großen Sorgen der Familie erzählen lassen und Ratschläge geben konnte. Das Nongkai, das er bei seiner Ankunft im Dschungel angetroffen hatte, gab es nicht mehr. Das wurde ihm in diesen paar Tagen immer klarer.
Die ehemals stinkenden, unhygienischen, von erbärmlichen Ölfunzeln erhellten, dreckigen Bambushütten mit ihren Blätterdächern hatten jetzt elektrisches Licht, wurden mit festen Dächern aus Schwartenbrettern und darübergezogenen Flechtmatten versehen und erhielten gemauerte Kamine.
Man einigte sich darauf, die Benutzung des ersten Spülklosetts von Nongkai gegen ein geringes Eintrittsgeld zu gestatten. Da Geld knapp war und alle Geschäfte vornehmlich im Tauschhandel abgewickelt wurden, ging der älteste Bürger von Nongkai, der fast neunzigjährige Samyan, der durch die Lepra sieben Finger, fünf Zehen und ein Ohr verloren hatte, aber jetzt als geheilt galt, vor das Haus und gab den Preis bekannt: »Einmal Klein: eine Handvoll Reis. Einmal Groß: ein Korb Maiskolben, Gemüse oder Baumwolle.«
Fünf Tage litt Minbya unter der Aufstellung des ersten Wasserklosetts in Nongkai, denn es wurde in der Nähe seines Hauses errichtet, und jeder wollte es benutzen. Dann wurde er entlastet. Das zweite WC wurde auf dem Marktplatz errichtet.
Auch an diese Neuerungen hatte man sich Nongkai längst gewöhnt. Der Ort entwickelte sich zügig zu einer modernen Gemeinde. Das Dorf war in Bezirke eingeteilt, die von Ärzten betreut wurden, überall wurde gebaut, der hohe Drahtzaun verschwand und damit das bedrückende Gefühl, nicht nur von den Menschen ausgestoßen, sondern auch noch wie ein wildes Tier gefangen zu sein.
Dr. Haller war am zweiten Tag nach seiner Rückkehr noch einmal durch Nongkai gegangen. Ganz langsam, die Hände auf dem Rücken, allein. Siri folgte ihm in ein paar Meter Abstand, eingewickelt in einen Baumwollsari, wie ihn auch die armen Frauen im Dorf trugen.
Die Mütter hielten ihre Kinder hoch und zeigten ihnen den ›großen Freund‹, den Engel, den vom Himmel Gefallenen. Die Greise legten die rechte Hand gegen ihre Stirn und verneigten sich. Die Männer begrüßten Haller wie einen Bruder und zeigten ihm, womit sie inzwischen ihren Hausrat bereichert hatten – mit einer Lampe zum Beispiel, die ohne Stinken brannte, wenn man an einem kleinen Hebel
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