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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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drehte, oder mit einem Herd, der seinen Rauch nicht mehr durch ein Loch in der Decke abziehen und aller Augen tränen ließ, sondern der an einem gemauerten Kamin stand, dessen Sog die Flammen entfachte, ohne daß man sie anblasen mußte. Man stellte ihm die neuen Bräute vor, die jungen Ehefrauen, die Schwangeren. Und überall blieb Dr. Haller ein paar Minuten stehen und sagte: »Ich freue mich mit euch! Macht so weiter, auch wenn ich eines Tages vielleicht nicht mehr bei euch bin.«
    Das war ein Satz, über den in Nongkai viel gesprochen wurde. Der Ältestenrat ließ Siri kommen, um sie zu befragen.
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie, »aber ich habe Angst. Er ist anders geworden, ganz anders. Er ist Chandra und doch oft so fremd. Ich fasse ihn an, und er merkt es nicht. Ich rede mit ihm, und er hört mich nicht. Ich weiß nicht, was mit ihm ist.«
    Auch Haller selbst wußte es nicht. Er beobachtete sich mit jener lauernden Aufmerksamkeit, die ein Arzt entwickelt, wenn er an sich selbst Symptome einer nicht mehr zu beherrschenden Krankheit feststellt. Heimlich machte er im Labor Tests, analysierte sein Blut, prüfte seine Nervenreaktionen. Es gelang ihm nicht mehr, auf einem auf dem Boden gezogenen Strich mit geschlossenen Augen geradeaus zu gehen; sein Gleichgewichtsgefühl war stark gestört. Im Hospital nahm er Dr. Butoryan das Ehrenwort ab, über alles zu schweigen. Dann ließ er sich – schon am zweiten Tag – von Butoryan punktieren. Das makroskopische Aussehen des Liquours ergab eine leichte Trübung, die Zellzählung war deprimierend. Demnach war das Zentralnervensystem geschädigt, und zwar in einem Umfang, daß Dr. Butoryan entsetzt von der Fuchs-Rosenthalschen Zählkammer im Mikroskop aufschaute und Dr. Haller anstarrte.
    »Ich weiß«, sagte Haller fast gleichgültig. »Der Teufel soll Sie holen, Butoryan, wenn Sie einen Ton davon sagen!«
    »Sie haben es geahnt?« stotterte der kleine dicke Arzt.
    »Nein, ich weiß es seit einem Jahr.«
    »Und Sie tun nichts dagegen?«
    »Sagen Sie mir, was man dagegen tun soll! Kommen Sie mir nicht mit solchem Blödsinn wie neurotropische Regeneration. Bei mir hilft kein Vitamin-B-Komplexstoß mehr. Zwei Jahre Zuchthaus, fünf Jahre Herumzigeunern in der Welt und Leersaufen ganzer Schnapsfabriken – das sollen die zarten Nerven in diesem verdammten Schädel aushalten?« Er klopfte mit den Knöcheln gegen seinen Kopf. Ein seltsam hohles Geräusch war zu hören. »Dieser Computer vergißt nichts, Butoryan! Soll ich Ihnen mal vorführen, wie ich mit geschlossenen Augen laufe?« Er machte drei Schritte, riß das Liquorpräparat aus dem Mikroskop, ergriff das Reagenzglas und warf alles in einen Eimer, wo es zerschellte.
    »Dr. Haller!« Butoryan beschwor ihn aufgeregt. »Sie müssen etwas tun. Ein Kerl wie Sie!«
    »Nur Kulisse, mein Lieber! Auf der Bühne, in Wagners ›Walküre‹, steht ein riesiger Eschenstamm. Der Inbegriff des Unbesiegbaren. Und was ist es? Ein Holzgerüst, mit bemalter Leinwand bespannt! Genau das bin ich auch! Ein Knochengerüst, mit Haut überzogen.«
    »Mein Gott, Sie denken doch! Sie sprechen! Sie handeln! Sie operieren, Sie heilen, Sie sind der Motor dieser kleinen Welt hier im Dschungel. Ohne Sie wäre Nongkai ein Leichenablageplatz. Und Sie, gerade Sie geben sich selbst auf? Da mache ich nicht mit, Doktor Haller! Da hört mein Gehorsam auf und mein Ehrenwort!«
    »Wollen Sie es hinausschreien, Sie Spinner?«
    »Ich werde es Siri sagen.«
    »Butoryan, ich schwöre Ihnen: Am nächsten Tag bringe ich Sie um!«
    »Siri ist die einzige, auf die Sie noch hören! Doktor, wir brauchen Sie! Verflucht, seien Sie nicht so egoistisch und kokettieren Sie nicht mit dem Sterben!«
    Dr. Haller setzte sich. Er blickte aus dem Fenster auf die Straße. Es war Abend, von den Feldern kamen die Arbeitertrupps zurück, über den Hütten mit den neuen Schornsteinen stieg der Rauch in den glühenden Himmel. In den Urwaldbergen versank die Sonne als runder roter Ball so schnell, als zöge sie jemand an einem Tau nach unten. »Ich trete mich ständig selbst in den Hintern, um gerade zu gehen. Tief hier drinnen«, er legte beide Hände über seine Brust, »habe ich Angst. Ganz gemeine Angst.«
    »Ich auch, Dr. Haller.« Dr. Butoryan schob das Mikroskop weg. »Wollen wir gleich einen Therapieplan besprechen?«
    »Nein. Ich mache weiter wie bisher. Was im Hirn zerstört ist, wächst nicht mehr nach, das wissen Sie so gut wie ich. Und ich verrate Ihnen noch etwas:

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