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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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will ich! In zwei Stunden ziehe ich gen Rangun.«
    »Behalten Sie es an, Dr. Haller. Bitte …« Es war etwas in Adripurs Stimme, was Haller aufhorchen ließ. Langsam knöpfte er den Kittel wieder zu.
    »Wer ist denn gestorben?« fragte er noch einmal. »Doch nicht etwa Taikky an einem Brillen-Hämatom? Das wäre eine medizinische Sensation. Möglich ist natürlich alles; Fettembolien können auch im Auge entstehen.«
    »Es ist ein größeres Begräbnis, Dr. Haller.«
    Haller, schon auf dem Weg zur Tür, blieb stehen. »Adripur, reden Sie nicht herum«, sagte er leise. »Hat Minbya sich umgebracht? Hat der Alte wirklich die Schuld auf sich genommen? Ist er tot?«
    »Nein. Das ganze Dorf ist tot.«
    »Das ganze … Adripur!« stammelte er entsetzt. »Sagen Sie das noch einmal!«
    »Gehen Sie hinaus!«
    »Ihr wollt mich fertigmachen, was? Ihr präsentiert mir jetzt einen Leichenberg und sagt: Da, das ist deine Schuld! Du wolltest es so!« Er ging langsam zur Tür und faßte nach dem Bambusgriff. »Das ganze Dorf?« fragte er leise. »Und Siri?«
    »Sie ist auch dabei.«
    »Nein!«
    Haller riß die Tür auf und stürzte ins Freie.
    Vor ihm lagen die Straßen verödet, die Hütten mit offenen Türen. Nur auf dem Dach der Kirche hockte der Küster und setzte seinen Riesenkürbis an, kaum daß er Haller sah. Der dumpfe, dröhnende Ton füllte die Stille aus, aber er verstärkte auch die Einsamkeit. Wenigstens er lebt, durchfuhr es Haller.
    Er rannte zum Marktplatz, und hier standen alle Dorfbewohner, die Gesunden und die Kranken, in einem weiten Viereck um die beiden geköpften Brüder Khawsa.
    Niemand fehlte, vom kleinsten Kind auf dem Rücken der Mutter bis zu dem Greis, den man auf Bambusstangen herangetragen hatte. Selbst aus dem Hospital hatte man die Amputierten und die im letzten Stadium dahindämmernden Sterbenden samt ihren Betten herausgerollt und vorn in die erste Reihe gestellt. Die Krankenpfleger, an der Spitze Pala, der bis heute noch verhinderte Mörder, standen zwischen den mit frischer Wäsche bezogenen Betten und wedelten mit großen Palmblättern die Fliegen von den Gesichtern der Schwerkranken. Siri, in ihrer Schwesterntracht, das Häubchen auf dem zusammengeknoteten Haar, stand neben Minbya und dem Ältestenrat in der Mitte des Vierecks, dort, wo auch Bettina Berndorf stand, ebenfalls in ihrer Schwesterntracht, bleich, mit großen, aber entschlossenen Augen.
    Sie hatten alle ihre besten Kleider angezogen. Es war ein hoher Feiertag, der höchste, den Nongkai je gehabt hatte: Ein Dorf war bereit, zu sterben.
    Dr. Haller blieb außerhalb des Vierecks stehen. Eine Gasse hatte sich gebildet, er sah die enthaupteten Brüder Khawsa auf der Erde liegen, und direkt dahinter, in der Verlängerung der Blicklinie, standen Siri und Bettina – nebeneinander.
    Es gibt eine Macht, die auch Haß besiegt. Angst!
    »Was soll das?« sagte Haller laut. Dr. Adripur, der hinter ihm gegangen war, schob sich an ihm vorbei und stellte sich zu den Pflegern zwischen die Betten. Ein Kind begann zu weinen. Die Mutter beugte sich vor und hielt ihm den Mund zu.
    »Was soll das?« schrie Haller über den stillen Platz.
    Tiefes Schweigen antwortete ihm. Er blieb außerhalb der Gasse stehen und ließ seinen Blick über die Menschen schweifen. Auch die kräftigen Burschen aus den Außenkommandos waren am frühen Morgen ins Dorf gekommen und hatten sich unter die Leprösen verteilt. Die zehn jungen Männer seiner Leibwache entdeckte er ebenfalls unter den Kranken; sie standen in einer offenbar genau durchdachten Ordnung, zwischen zwei Leprösen ein Gesunder.
    Dr. Haller hieb die Fäuste gegeneinander und stapfte in das Viereck. Er mußte notgedrungen nahe an die beiden Enthaupteten heran. In dem vorderen Bett begann einer der Sterbenden zu röcheln. Pala beugte sich über das zuckende Gerippe und gab ihm eine Injektion. Das Röcheln wurde gleichmäßiger, aber lauter.
    »Ihr Hornochsen!« schrie Haller. »Die Amputierten sofort ins Hospital! Bettina, Sie sorgen dafür, daß der Abtransport sofort erfolgt! Siri, du kümmerst dich um die Ambulanten!«
    »Es gibt kein ›sofort‹ mehr, Doktor«, sagte Minbya. Niemand rührte sich. Es war, als hätte Haller in einen luftleeren Raum geschrien.
    »Das hier ist keine faire Untersuchung, das ist eine Erpressung! Ich lasse mich nicht erpressen, von niemandem, auch nicht von dreihundert Leprösen. Auch von dir nicht, Siri! Nicht von Ihnen, Adripur! Nicht von Ihnen, Bettina! Hier liegen zwei

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