Engel der Vergessenen
verknotete.
Es war eine altmodische Schürze, die noch kein festes Nackenband hatte.
Dr. Adripur hatte unterdessen mit der Narkose begonnen. In der Medikamentensendung war auch gutes Narkosematerial gewesen, man konnte jetzt wählen, aber es blieb immer nur die Wahl zwischen einer intravenösen und einer Inhalationsnarkose mit Äther.
Adripur leitete die Narkose ein mit einer Injektion von Eunarcon in die Vena cubiti. Langsam drückte er den Glaskolben leer, ließ dann die Nadel in der Vene, um später nachinjizieren zu können.
Dann stülpte Bettina die Schimmelbusch-Maske über die Nase des Patienten und begann mit dem vorsichtigen Tropfen des Äthers. Der stechende, widerliche Geruch verbreitete sich schnell im ganzen OP. Um die durch Äther verursachte starke Speichelsekretion abzustoppen, spritzte Adripur noch 1 mg Atropin.
Bettina kontrollierte die Reflexe, die Pupillen des Kranken reagierten nicht mehr auf einen starken Lichteinfall, als sie eine kleine Operationslampe vor seine Augen hielt. Das Stadium des tiefen Schlafes, die Toleranz, war erreicht.
Siri stand neben dem peinlich genau aufgebauten Instrumententisch und reichte Haller das erste große Skalpell. Auf einer mit sterilen Tüchern abgedeckten Chromschiene lag weit weggestreckt das Bein, das amputiert werden sollte.
Dr. Karipuri erhob sich brüsk. Hier gab es nichts mehr zu sehen. Die Verhöhnung Dr. Hallers fiel für heute aus. Er war sichtbar in blendender Verfassung, und Karipuri lag nichts daran, in den jungen Ärzten ein Gefühl von Bewunderung aufkommen zu lassen.
»Gehen wir!« sagte er. Es klang wie ein Befehl. Die neuen Ärzte und Schwestern zuckten zusammen und blickten noch immer fasziniert zu dem OP-Tisch.
Dort hatte Haller mit schnellen Schnitten Fascie, Fettschicht und Muskeln durchtrennt und machte einen Lappenschnitt. Die Knochenhaut des Oberschenkels lag frei, Adripur hatte gewandt die Aderklemmen gesetzt und hielt jetzt mit Wundhaken die klaffende Wunde auseinander. Siri reichte, noch bevor Haller etwas sagte, das Langenbecksche Knochenmesser zum Umschneiden des Periosts hin und kurz danach das Raspatorium zur Ablösung der Knochenhaut.
»Wird Ihnen übel, Karipuri?« rief Haller. »Siri, schnell einen Eimer her. Der Herr Chefarzt muß kotzen!«
Ohne eine Entgegnung verließ Karipuri den OP. Die anderen Ärzte folgten ihm, ohne Haller eines Blickes zu würdigen.
»Das war ein Fehler, Dr. Haller«, sagte Adripur, als die Tür zugefallen war.
»Er hat mich zuerst angerotzt. In Gegenwart der Kollegen.«
»Die sind Birmesen – Sie sind ein Weißer. Da liegt der Unterschied. Karipuri wird das alles brandmarken als die verfluchte Überheblichkeit der weißen Rasse. So sammeln Sie keine Sympathien.«
»Ich will keine Sympathien, ich will Ehrlichkeit.« Dr. Haller begann mit dem Raspatorium die Knochenhaut abzulösen. »Die neuen Kollegen sind doch nicht blind!«
»Aber jung – und auf Taikkys Wohlgefallen angewiesen. Wir werden bald allein stehen und nach allen Seiten schlagen müssen.«
»Patient reagiert auf Licht«, sagte Bettina am Kopfende des Operationstisches.
»Nachnarkose.«
Dr. Adripur setzte eine neue Spritze mit Eunarcon an die in der Vene verbliebene Injektionsnadel.
In den nächsten Tagen verlief alles ruhig.
Minbya hatte sein Versprechen gehalten. Die vierzig Hütten standen bezugsbereit, bevor die großen Transporte anrollten. Dr. Haller besichtigte jede, lobte die Arbeit, gab über hundert Leprösen die Hand und war gerührt von der Liebe, die ihm entgegenschlug.
»Wieviel Geld haben Sie?« fragte er Bettina. Sie sah ihn entgeistert an.
»Warum?«
»Ich habe keins. Meinen Vorschuß vom Ministerium habe ich in Rangun versoffen, bevor ich nach Lashio und Homalin flog. Dort wo ich hinkomme, brauche ich kein Geld mehr, habe ich mir gesagt. Aber jetzt brauche ich Geld, um ein großes Fest zu finanzieren. Ich will das ganze Dorf zu einer rauschenden Ballnacht einladen, zum Dank für seine Treue und für die geleistete Arbeit.«
»Ich habe, umgerechnet, vielleicht zweitausend Mark bei mir. Sie können sie haben.«
»Als Darlehen. Ich arbeite es ab, Bettina. Was würde Ihr Verlobter sagen, wenn Sie ohne das Geld nach Hause kämen?«
»Ich habe keinen Verlobten.«
»Also Ihr Freund.«
»Der ist als Entwicklungshelfer nach Afrika gegangen.«
»Da war es zu meiner Zeit nicht so kompliziert, Bettina. Wir brauchten unsere Betten nicht durch die halbe Welt zu tragen, um endlich mal miteinander zu
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