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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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des Weges standen seine Leprösen. Ein Spalier wie damals, als er nach Nongkai kam. Nur schwenkten sie damals Palmenzweige und streuten Blumen. Heute hatten sie Knüppel in der Hand und Grausamkeit in den Augen.
    Er kannte sie beim Namen, war orientiert über ihre persönlichen und familiären Sorgen, war nicht nur ihr Arzt, sondern auch ihr Vertrauter geworden. Jeder hatte ihn mit dem eigenen Leben beladen und mit dem Auftrag: Mach es gesund, es ist jetzt auch dein Leben. Und er hatte sie alle angenommen.
    Jetzt standen sie da und bildeten eine Gasse bis hin zum Hospital. Am Tor ballte sich ein Haufen anderer ›Neu-Nongkaier‹ und schnitt den Weg ab.
    Taikky und sieben Ärzte lehnten am Geländer der Terrasse des Verwaltungsgebäudes, rauchten, tranken und diskutierten gestenreich. Sie wollten das Schauspiel genießen: die Vernichtung eines Engels.
    Dr. Haller zog die Schultern hoch. Adripur ahnte, was er dachte.
    »Gehen Sie ruhig, Haller«, sagte er. »Sie werden Ihnen nichts tun. Nicht auf dem Hinweg …«
    »Hat man denn allen Kranken Rauschgift zu fressen gegeben?« fragte Haller. »Auf normalem Weg kann doch ein ganzes Dorf nicht innerhalb von vier Tagen komplett verrückt werden?«
    »Das Rauschgift sind Sie!«
    »Ich war in Lashio!« brüllte Haller.
    Dr. Adripur legte den schmalen, schönen, seltsam durchsichtigen Kopf zur Seite. »Waren Sie das wirklich?« fragte er gedehnt.
    Haller war jetzt so sprachlos, daß er Siri an die Hand nahm, sich abwandte und langsam die Menschengasse hinunterging zum Hospital. Adripur blieb zurück, nur Minbya folgte zwei Schritte hinter ihnen. Aber nach zwanzig Metern wurden seine Schritte immer kleiner, der Abstand immer größer, schließlich blieb er stehen, allein und einsam, ein alter, von der Lepra zerstörter Mann, und sah weinend seiner Tochter und seinem Arzt nach.
    Haller schritt durch die Menschen hindurch … er tat es wirklich. Er blickte nach links und rechts, nannte jeden beim Namen und sagte: »Lonu, ich habe für dich neue Tabletten! Sainu, du bekommst nachher eine wunderbare Spritze! Paiko, für dich habe ich in Lashio ein Elektromassagegerät bestellt. Wir bekommen deine Nerven wieder hin! Donya, noch vier Wochen, dann kann ich dich entlassen. Weißt du noch – als ich ankam, wolltest du sterben …«
    So ging er nicht nur durch die Gasse – er ging gleichsam mitten durch die Menschen selbst. Aber die er ansprach, senkten den Kopf, sahen ihn nicht an, kehrten sich um, als Haller weitergegangen war, und trotteten zu ihren Hütten.
    »Sehen Sie sich das an, meine Herren!« sagte Taikky auf seiner Veranda. Er genoß das Schauspiel, wie ein römischer Kaiser die Zerfleischung der Christen in der Arena. »Alles kann man einem Heiligen vergeben, nur nicht, daß er einen Unterleib hat!«
    Er lachte fett, trank von seinem Fruchtsaft und freute sich auf das, was noch kommen würde.
    Haller und Siri erreichten das Hospital ohne Zwischenfall.
    An der Eingangstür empfing sie der finstere Pala. Da Haller ihn nie anders gesehen hatte als mit einem haßerfüllten Blick, blieb er stehen und sagte: »Pala, wir zwei haben uns nie leiden können, aber wir haben immer fabelhaft miteinander gearbeitet. Du bist ein hervorragender Pfleger. Warum sind wir Feinde? Vielleicht, weil wir uns so ähnlich sind? Wir pfeifen auf diese Menschheit, und wir rackern uns ab, ihr zu helfen. Aus dieser Schizophrenie gewinnen wir Kraft. Pala, du verdammtes Aas: War ich in Lashio?«
    »Ja, Doc.« Palas dunkles Gesicht blieb ausdruckslos, nur seine Lippen bewegten sich bei den knappen Worten.
    »Ich habe Schwester Bettina nicht vergewaltigt?«
    »Nein, Doc.«
    »Danke, Pala.«
    »Es nützt Ihnen wenig, Doc.«
    »Warum?«
    »Alle glauben es.«
    »Aber du weißt es besser.«
    »Alle wissen es besser. Und trotzdem glauben sie es.«
    »Aha!« Haller drehte sich langsam um. Die Gasse hatte sich geschlossen. Vor ihm stand die Menschenmauer. Um sie herum zog sich der weite Bogen von Bano Indins Streitmacht. Von der Verwaltung herüber kamen jetzt die Ärzte, die Krankenschwestern und Pfleger; Taikky führte sie an. Man hatte alles Pflegepersonal in der Verwaltung zusammengezogen, nur Pala war anscheinend allein im Hospital zurückgeblieben. Haller schüttelte den Kopf. »Welch ein Aufwand, um eine Ruine zu vernichten! Pala, geh zu Taikky und sag ihm: Das war ein großer Fehler! Er hätte Bettina in Ruhe lassen sollen. Diese Hundsgemeinheit, ein Mädchen wie Bettina zu vernichten, um mich daran

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