Engel des Todes
lehmigen Rand und machte sich startklar. Er rannte los.
Er widerstand der Versuchung, sich umzuschauen, er wollte gar nichts sehen. Die Außenposten seines Körpers machten ständig Meldung – Kopf angestoßen, Knöchel schmerzt, Taschenlampe verloren –, doch er setzte sich über alles hinweg und schoss im Zickzack durch die Dunkelheit. Alle Schmerzen und Kollisionen zählten nichts angesichts der Vorstellung, in die Klauen eines Bären zu geraten. Er rannte, alles vergessend, was seine Gattung seit der letzten Eiszeit gelernt hatte. Er rannte wie ein flüchtendes Tier, in Panik. Er sauste wie eine Flipperkugel durch Sträucher und über Baumstämme, mal hüpfend, mal mit weiten Sprüngen, und gelangte schließlich in ein Gebiet, wo die Bäume nicht mehr so dicht standen.
Während er sich die Anhöhe hinaufarbeitete, merkte er, dass es wieder geschneit hatte, lange nachdem die Nachricht durch das Knirschen unter seinen Füßen bis in sein Bewusstsein gedrungen war. Dieses Geräusch, verbunden mit den Peitschenschlägen dünner Zweige und dem stechenden Schmerz in den Lungen, sorgte für eine solch dröhnende Panik, dass er erst nach einer Weile merkte, wie still es eigentlich war. Er stolperte, fiel auf die Hände und ein Knie. Mühsam rappelte er sich wieder auf und fiel erneut. Schließlich blieb er stehen und schaute sich um. Oben auf der Anhöhe angekommen, die sich aus dem Wald erhob, war er bereit, wieder zu rennen, um dem Tod zu entgehen, komme, was wolle.
Kein Bär zu sehen.
Sein Blick wanderte über den sanften Hügel. Fahles Mondlicht, weißlich blauer Widerschein, keine Tiefenschärfe. Er sah und hörte nichts, auch nachdem er den Atem angehalten hatte, um das Schnaufen zu unterdrücken. In seiner Brust brannte es wie Feuer.
Er zog sich in die Nähe eines mächtigen Baumes zurück. Hinaufklettern würde ihm nichts helfen. Der Bär wäre gewandter als er, nicht zuletzt deshalb, weil er vermutlich nicht mit einer Ohnmacht zu kämpfen hatte. Dennoch fühlte Tom sich in der Nähe des Baumes besser.
Er wartete. Weit und breit kein Laut.
Dann meinte er etwas zu hören.
Unten am Fuß des Hügels, tief in der froststarrenden Finsternis. Das Geräusch knackender Zweige.
Er erstarrte vor Entsetzen, unfähig, sich zu rühren. Voll Panik war er gerannt, und nun blieb ihm nur noch der blanke Schrecken. Vor Angst wusste er nicht mehr, wie er sich fortbewegen sollte.
Er blieb einfach stehen, ohne das Geräusch noch einmal zu hören.
Dann drehte er sich um, horchte wieder. Nichts. Nur Schnee und Schatten und hin und wieder ein Geräusch, wenn sich die Schneelast von einem Zweig löste. Er wusste nicht, was tun.
Also blieb er stehen, wo er gerade war.
Gegen sechs Uhr morgens fühlte er sich entsetzlich. Alle Katzenjammer seines bisherigen Lebens zusammengenommen reichten doch nicht an das heran, was er jetzt erlebte. Eine Beule an der rechten Schläfe – die er sich vermutlich bei seinem zweiten Sturz zugezogen hatte – fügte als weitere Note noch ein starkes Schwindelgefühl hinzu. An verschiedenen Körperstellen spürte er stechenden Schmerz, wenn er sein Gewicht verlagerte, und auf der rechten Seite taten ihm die Rippen auch dann scheußlich weh, wenn er sich gar nicht rührte. Die Kälte potenzierte die ganze Qual ins Unerträgliche. Ihm wurde klar, dass er früher noch nie richtig gefroren hatte. Wenn alles nur so geblieben wäre. Irgendwann in der Nacht hatte er den Eindruck, jeder Quadratzentimeter Haut sei mit Wanzen übersät. In den folgenden Stunden hatte er die meiste Zeit damit verbracht, seinen Körper auf möglichst unauffällige Weise zu bewegen. Er ließ die Zehen kreisen oder versuchte es zumindest. Der Nutzen war immer schwerer abzuschätzen. Er vergrub die Hände in den Achselhöhlen und holte sie nur hin und wieder hervor, um sich Gesicht und Ohren warm zu reiben. Mehrmals nickte er ein, aber nie für lange Zeit. Er merkte gar nicht, dass er seine Selbstmordpläne aufgegeben hatte, so sehr plagten ihn Angst und Qual.
Ihm war übel nach einer Nacht, in der ihn der Brechreiz immer wieder gepackt hatte. Er erinnerte sich undeutlich, dass nach missglückten Selbstmordversuchen mit Schlaftabletten bestimmte Organe einen Knacks bekämen. War es die Leber? Waren es die Nieren? Er wusste es nicht mehr. Das eine schien so schlimm wie das andere. Schon ziemlich am Anfang seiner durchwachten Nacht hatte er begriffen, weshalb er immer noch am Leben war. Eine gefrorene Masse mit
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