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Engel des Todes

Engel des Todes

Titel: Engel des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marshall
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Richtung, und es ging steil bergab.
    Herrgott noch mal, dachte er müde. Der Magen tat ihm weh, als hätte er Rasierklingen verschluckt. Im Kopf dröhnte es wie eine Lawine von Glasscherben. Brauchte er den Rucksack wirklich? Vielleicht hatte ja der Alkoholgeruch den Bären angelockt. Vielleicht war er immer noch dort und wartete auf ihn, aber jetzt betrunken. Tom hielt unschlüssig inne.
    Hol den Rucksack, dachte er. Was bleibt dir anderes zu tun?
    Er trottete an der Schlucht entlang. Sie wurde schmaler, aber nicht so sehr, dass er hätte hinüberspringen können. Vor zwanzig Jahren hätte er sich vielleicht einen Sprung über drei Meter zugetraut. Aber jetzt nicht mehr, vor allem, da beide Wände der Schlucht steinig waren, es kaum Platz zum Anlaufnehmen gab und ihn obendrein der angeschwollene Knöchel schmerzte. Eines war klar, hier war kein Hinüberkommen. Er gelangte an eine dicht stehende Baumgruppe und musste nach links ausweichen, ehe er wieder an den Rand der Schlucht zurückkehrte.
    Plötzlich stutzte er. Vor ihm lag ein Baum quer über der Schlucht. Er war auf der anderen Seite umgestürzt und durch Zufall so gelandet, dass auf beiden Seiten des Abgrunds ein gutes Stück Stamm zu liegen gekommen war.
    Tom ging zu der Stelle. Der Stamm war ziemlich dick, vielleicht einen halben Meter im Durchmesser. Das Holz schien auch gesund zu sein. Er zog versuchsweise an einem Zweig, der gleich wieder zurückschnellte. Der Baum war also erst vor kurzem umgestürzt und nicht verfault. Der Stamm führte von der Seite, auf der er stand, hinüber auf die Seite, wo er gern wäre. Die drei Meter über den Stamm würden ihm einen Umweg von vielen hundert Metern ersparen.
    Richtig, aber unter diesen drei Metern war nichts als gähnende Leere, und vom Grund ragten viele spitze Felsen auf. Drei Meter über einen Stamm, der doch nicht besonders breit und womöglich glatt war, da Schnee auf ihm lag. Drei Meter, die auch ohne angeschwollenen Knöchel nicht leicht zurückzulegen waren.
    Tom schwindelte es einen Augenblick, als ob ein Rest Alkohol erst jetzt im Gehirn angekommen wäre. Als die Welt sich zu drehen aufhörte, trat er an den Baum heran und setzte seinen gesunden Fuß auf den Stamm. Der rührte sich nicht und machte einen stabilen Eindruck. Das Gewicht würde er aushalten. Nur in Toms Geist schien es gefährlicher, über den Stamm auf die andere Seite zu gehen als ein paar Schritte auf einem vereisten Bürgersteig.
    Er bewegte den Fuß ein bisschen weiter und schob dabei etwas Schnee beiseite. Aha, er sah sofort die Möglichkeiten, die sich auftaten. Statt zu gehen, könnte er auch schlurfen. So brauchte er nicht die Füße zu heben (das machte weniger Angst), und da er gleichzeitig den Schnee wegräumte, wurde der Untergrund für den nächsten Schritt weniger glatt. Er machte sich bereit und setzte den anderen Fuß ebenfalls auf den Stamm, so dass er nun längs auf ihm balancierte.
    Wie er so dastand und sein Gleichgewicht überprüfte, sah er aus wie der einsamste und verfrorenste Surfer der Welt.
    Dann setzte er sich in Bewegung. Er schob den linken Fuß etwa dreißig Zentimeter seitwärts, wartete, bis er festen Stand hatte, und zog dann den rechten Fuß um die gleiche Strecke heran. Er fühlte sich sicher. Zwar war er mit beiden Füßen noch über festem Boden, aber der Anfang war getan. Er schob den linken Fuß erneut seitwärts, wieder dreißig Zentimeter, dann den rechten. Der linke Fuß befand sich nun am Rand der Schlucht.
    Je mehr Schritte du brauchst, dachte Tom, desto eher kannst du abstürzen, und laut sagte er: »Was schikanierst du mich?« Wieder schob er den linken Fuß dreißig Zentimeter vor und zog den rechten nach. Nun stand er ganz amtlich über dem Abgrund, obwohl er mit einem Sprung festen Boden erreichen konnte.
    Wohin sollte er schauen? Jedenfalls nicht nach unten. Auch nicht nach oben. Also geradeaus die Schlucht entlang. O nein, das nicht. O Scheiße.
    Nach links. Dort willst du ja hin.
    Er wandte den Kopf nach links. Eine gute Idee. Die andere Seite der Schlucht war wirklich nicht sehr weit entfernt. Er schob den linken Fuß wieder vor. Dann den rechten. Den linken, dann den rechten. Nun hatte er fast die Mitte des Stammes erreicht.
    Er machte wieder eine Seitwärtsbewegung. Mit dem Fuß stieß er gegen einen Knoten im Holz und spürte ein Zucken im Bein. Kein Grund zur Panik, dachte er. Sein Bein war im Gleichgewicht, aber nicht der übrige Körper. Sein Oberkörper schien plötzlich aus

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