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Engel des Todes

Engel des Todes

Titel: Engel des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marshall
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tablettenähnlichen Einlagerungen haftete vorn auf seinem Mantel. Betrunken wie er war, hatte er sich im Schlaf übergeben müssen. Der Körper hatte den Ballast, der ihm Unbehagen bereitete, abgeworfen. Viele Tabletten waren aus dem Magen wieder hochgekommen, ohne Gelegenheit zu haben, ihre Wirkung zu entfalten. Die aufrechte Position, in der er sich befand, hatte ihn vorm Erstickungstod gerettet. Vielleicht hatte der Brechreiz verhindert, dass die Tabletten überhaupt Zeit hatten, seine Organe zu schädigen. Vielleicht.
    Je weiter der Wald um Tom herum an Tiefe gewann und sich allmählich Farben in das eintönige Grau der Nacht mischten, desto mehr war er dazu bereit, noch einen weiteren Tag zu leben. Er wusste nicht, was auf ihn zukam. Er hatte Angst, und er war sauer – sauer auf sich selbst, auf das Leben, vor allem aber auf den alten Narren in Henry’s Bar. Wenn man Leuten schon Angst einjagen wollte, dann durfte ein Hinweis auf die Bären nicht fehlen. Welcher gichtige alte Panikmacher konnte die Bären vergessen? Undurchdringliche Wälder sind das eine. Diese Wälder plus kapitale Fleischfresser, die für ihre Unberechenbarkeit bekannt sind, sind etwas ganz anderes. Man ist es seinem Publikum, vor allem den Suizidwilligen, geradezu schuldig, diese verdammten Bären zu erwähnen.
    Als Tom hinter dem Baum hervortorkelte, stellte er fest, dass der Gedanke, den alten Kauz zur Rechenschaft zu ziehen, nach langer Zeit das Erste war, was ihm wieder Geschmack am Leben gab.
     
    Die Schneedecke war nur dünn, doch konnte man unschwer den Weg bergab erkennen, den er in der Nacht zuvor genommen hatte. Am Fuß des Hügels stand er vor dichtem, froststarrem Gebüsch. Er drehte sich einmal um sich selbst, entlastete den angeschwollenen Knöchel und schaute den Hang hinauf. Er erinnerte sich dunkel, sich beim Hinabschlittern nach rechts gewandt zu haben. Also musste er sich jetzt links halten. Dafür müsste er sich durch das dichteste Unterholz arbeiten. Nein, danke. Stattdessen machte er weiter hügelan einen Umweg, balancierte über Felsen und Baumstämme, bis er wieder in die richtige Richtung einschwenkte.
    Ihm fehlte eine klare Vorstellung, wie weit er gelaufen war. Im kalten, schönen Licht eines guten Tags zum Sterben plus eins wusste er nicht einmal, warum er den Weg zurückging. Gehen war wärmer als stehen, und wenn schon gehen, dann machte es sich besser, ein Ziel zu haben. Ein Ziel für den Augenblick, nicht jenen dunklen Ort, dem er tags zuvor entgegengestolpert war. Diesen Ort gab es immer noch dort draußen, und gewiss war noch genug von dem Zeug in seinem Rucksack, um dem ursprünglichen Ziel näher zu kommen. Allerdings wusste er nicht mehr, was er von dieser Vorstellung halten sollte. Doch den Rucksack musste er auf jeden Fall finden.
    Er marschierte gut zwanzig Minuten lang. Die Kälte machte aus den Schmerzen, die ihn überall piesackten, eine alles umfassende Qual. Als Inbegriff menschlichen Unbehagens trottete er durch den Wald und brummte ständig, wie kalt es doch sei. Das war zwar sinnlos, aber irgendwie auch tröstlich. Er hielt immer wieder inne und schaute um sich, in der Hoffnung, etwas zu sehen, das ihm bekannt war, oder auch nur um sich zu versichern, dass die Gegend bärenfrei blieb. Er wollte schon aufgeben, als er ein Geräusch wie von fließendem Wasser hörte.
    Er verließ den Weg des geringsten Widerstands und drang vorsichtig in das Unterholz vor. Noch ein Sturz, und er würde überhaupt nicht mehr auf die Beine kommen.
    Auf der anderen Seite des dichten Gesträuchs lichtete sich der Wald, und dann kam eine richtige Schlucht. Hoffentlich
die
Schlucht, dachte er, obwohl es anders als in seiner Erinnerung aussah. Es war dunkel gewesen, und er hatte keine Zeit gehabt, sie näher zu untersuchen, ehe er abstürzte und bis auf den Grund purzelte. Im Schein der Taschenlampe hatte er sie für ziemlich breit gehalten und dort, wo er gelandet war, auf höchstens vier, fünf Meter tief. Die Schlucht vor ihm war schmaler und sehr viel tiefer. Die Wände fielen steil ab, viel zu steil und steinig, um hinabzuklettern.
    Er musste über die Stelle, wo er sich vergangene Nacht befunden hatte, hinausgegangen sein.
    Er schaute nach rechts in die Richtung, die er einzuschlagen hatte. Grimmig aussehende Bäume und dichtes Gebüsch wuchsen bis an den Rand des Abgrunds. Er konnte umkehren und den langen Weg nehmen, aber das war beschwerlich. Links war der Wald nicht so dicht, aber es war die falsche

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